Im Zuge seiner Erholung von den Tiefstkursen Ende 2022 hat der Kurs des S&P 500 kürzlich den Bereich um 4.200 Punkte getestet.
Da die Fed im Mai wahrscheinlich ihre letzte Zinserhöhung in diesem Zyklus vornimmt und die US-Wirtschaft bisher von einer Rezession verschont geblieben ist, stellen sich die Anleger eine wichtige Frage:
Steht uns ein neuer Bullenmarkt bevor, oder handelt es sich lediglich um eine weitere (längere) Bärenmarktrallye?
Der S&P 500 fasziniert uns immer wieder als Stimmungsbarometer für den kurzfristigen Risikoappetit der Investoren.
Als Makro-Investor bedeutet der Kauf von Aktien jedoch, dass man den Fluss künftiger Cashflows (Erträge), den das Unternehmen generieren wird, und den Preis (Bewertung), den man dafür zu zahlen bereit ist, in Betracht zieht.
Beginnen wir also mit den Aussichten für den Gewinn je Aktie (EPS) im Jahr 2023 und darüber hinaus
Wie aus der Übersicht von "Earnings Whispers" hervorgeht, legen Unternehmen mit einer kumulierten Börsenkapitalisierung von mehr als 10 Billionen Dollar diese Woche ihre Finanzergebnisse vor.
Der große Knall kommt Ende nächster Woche mit den Zahlen von Apple (NASDAQ:AAPL) am Donnerstag, gefolgt von den offiziellen US-Arbeitsmarktdaten am Freitag.
Bislang haben etwa 25 % aller S&P 500-Unternehmen ihre Zahlen veröffentlicht, wobei 68 % die Erwartungen der Börse übertrafen: das kann sich sehen lassen, oder?
Meine Tätigkeit im Bankgewerbe hat mir aber eines beigebracht, den Analystenkonsens stets mit Vorsicht zu genießen und mich lieber auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist: steigen die Unternehmensgewinne, wenn ja, in welchem Tempo, und wie ausgeprägt ist das positive/negative Momentum?
Seit Sommer 2022 stellen Aktien einen negativen Carry-Trade dar, und das wird aller Voraussicht auch so bleiben.
Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine.
Die Grafik auf der linken Seite zeigt den realisierten Jahresgewinn pro Aktie des S&P 500: Er liegt derzeit bei 223 Dollar.
Seit Mitte 2022 ist das Momentum des Gewinnwachstums eindeutig im Bereich von 220 Dollar zum Stillstand gekommen, während die Erwartungen für das künftige 12-monatige EPS-Wachstum von 240 Dollar auf 225 Dollar gesunken sind.
Das heißt, Investoren, die seit Mitte 2022 Aktien kauften, wurde:
- ein 8 bis 10%iges Wachstum des Gewinns pro Aktie über einen Zeitraum von 12 Monaten "versprochen" (238 Dollar erwarteter Gewinn pro Aktie in 12 Monaten gegenüber 220 Dollar Gewinn zum Zeitpunkt des Kaufs). Parallel dazu mussten sie mit ansehen, wie diese Erwartungen auf fast 0 % Wachstum zurückgeschraubt wurden.
- Die von den Investoren gekauften Aktien haben praktisch kein tatsächliches Gewinnwachstum geliefert.
Wer Kapital einsetzt, erwartet für die Zukunft einen über dem Konsens liegenden Gewinnzuwachs.
Wenn die tatsächlichen Cashflows hoch sind und über dem Marktkonsens liegen, stellen Aktien einen "positiven Carry"-Trade dar, da die Anleger ordentlich dafür entlohnt werden, am Aktienmarkt zu investieren.
Seit letztem Jahr ist aber genau das Gegenteil der Fall: Die realisierten Gewinne waren schwach, und die Erwartungen für das künftige EPS-Wachstum wurden gesenkt.
Da die risikofreien Zinssätze jetzt im Bereich von 5 % liegen, handelt es sich bei Aktien ganz klar um einen negativen Carry-Trade.
Dennoch kann man mit negativen Carry Trades immer noch Geld verdienen - wie?
Durch die Ausweitung der Bewertungen oder einfach durch Leute, die gewillt sind, mehr für etwas zu bezahlen, als es tatsächlich wert ist, nur um dabei zu sein.
Die Rallye des S&P 500 von den Tiefstständen Ende 2022 wurde fast vollständig durch die Expansion der Multiples getrieben: Wie der grüne Pfeil zeigt, stieg das erwartete 12-Monats-KGV ziemlich schnell von 16 auf 18,5, als der Disinflationstrend einsetzte und die Fed die Märkte teilweise von der "volckerschen" Unsicherheit befreite.
Heute stellt sich die Frage: Wie steht es um die künftigen Gewinne, Bewertungen und Risikoprämien?
Oder anders ausgedrückt: Handelt es sich um einen neuen Bullenmarkt oder nur um eine weitere Bärenmarktrallye?