Eine alte Börsenweisheit besagt, dass die Aktienmärkte der realen Wirtschaft etwa sechs Monate vorauslaufen. Zwar ist der Aktienmarkt kein perfekter Indikator, aber er spiegelt die Erwartungen der Anleger in Bezug auf künftige Unternehmensgewinne, die wirtschaftliche Entwicklung, Zinssätze und Inflation wider. Verändert sich die Stimmung – etwa durch die Erwartung von Schwäche in einem dieser Bereiche – reagieren die Märkte häufig mit Kursverlusten. Das ist oft Ausdruck einer Neubewertung der künftigen Wachstumsaussichten.
Das ist durchaus nachvollziehbar: Anleger analysieren laufend die Ertragslage und passen ihre Erwartungen entsprechend an – oft, bevor sich diese Veränderungen in den offiziellen Wirtschaftsdaten widerspiegeln. In unserem Artikel „Scheitern an der 200-DMA“ haben wir betont, dass wir den Fokus auf die Unternehmensgewinne legen. Denn aktuelle wie erwartete Earnings spiegeln Veränderungen im Risikobewusstsein des Marktes häufig besser wider als andere Faktoren. Dort heißt es unter anderem:
„Die Anleger verlieren beim Lesen der Schlagzeilen über steigende Rezessionsrisiken, Schulden, Defizite oder Bewertungen oft den Überblick. Diese Risiken sind zwar wichtig, aber für Prognosen, wohin sich die Märkte als Nächstes bewegen werden, sind sie schlecht geeignet. Wenn diese Risiken zu einem Problem werden, wird der Markt außerdem beginnen, eine Verringerung der zukünftigen Earnings einzupreisen.“
Historisch betrachtet sind größere Rezessionen in den USA fast immer von deutlichen Marktrückgängen eingeleitet worden. So erreichte der S&P 500 zum Beispiel Anfang 2000 seinen Höchststand – Monate vor dem offiziellen Beginn der Rezession im Jahr 2001. Auch vor der Finanzkrise 2008 setzten die Märkte bereits Ende 2007 zur Abwärtsbewegung an. Die Rezession begann zwar offiziell im Dezember desselben Jahres, wurde vom NBER jedoch erst ein Jahr später – im Dezember 2008 – bekanntgegeben. Und der COVID-19-bedingte Einbruch Anfang 2020? Auch hier reagierten die Märkte mit einem plötzlichen Absturz in Erwartung eines wirtschaftlichen Stillstands – lange bevor die offiziellen Wirtschaftsdaten das Ausmaß erkannten.
„Die folgende Grafik zeigt den S&P 500 mit zwei Punkten. Die blauen Punkte zeigen an, wann die Rezession begann. Das gelbe Dreieck zeigt, zu welchem Datum das NBER den Beginn der Rezession bekanntgegeben hat. In 9 von 10 Fällen hat der S&P 500 seinen Höhepunkt erreicht und nach unten gedreht, bevor eine Rezession offiziell als solche anerkannt wurde.“ – Scheitern an der 200-DMA
Dabei ist es jedoch entscheidend, zwischen normalen Marktkorrekturen und echten Anzeichen für eine Rezession zu unterscheiden.
Nicht jede Korrektur ist ein Warnsignal
Auch wenn die Definition etwas willkürlich wirkt, gilt am Markt seit Langem: Eine Korrektur liegt vor, wenn die Kurse um 10 % oder mehr vom letzten Hoch zurückgehen. Solche Rücksetzer sind keineswegs ungewöhnlich – im Schnitt treten sie etwa einmal pro Jahr auf.
Gerade in Bullenjahren kommt es häufiger zu Korrekturen, als man vielleicht vermuten würde. Wenn sie auftreten, wächst oft schnell die Sorge, es könnte sich um den Beginn eines Bärenmarktes handeln. Dabei zeigt ein Blick in die Historie: In rund 73 % der Fälle entwickelt sich der Aktienmarkt positiv. Nur in den verbleibenden 27 % kommt es zu Korrekturen, die meist eine Übertreibung vorangegangener Kursanstiege wieder ausgleichen.
Der Median solcher Rückgänge liegt historisch bei 10 %, dem gegenüber steht ein Median-Gewinn von 13 %. Angesichts der Regelmäßigkeit, mit der 10-%-Korrekturen auftreten, gilt: Nicht jeder Rückschlag ist gleich ein Vorbote einer Rezession.
Korrekturen an den Aktienmärkten können durch eine Vielzahl kurzfristiger Faktoren ausgelöst werden – etwa durch geopolitische Spannungen, überhöhte Bewertungen oder plötzliche Stimmungsumschwünge unter Anlegern. Und aktuell gibt es an solchen Einflussfaktoren keinen Mangel.
Derzeit richten sich die Blicke der Marktteilnehmer vor allem auf die Auswirkungen von Zöllen, die anhaltend hohe Inflation und das hohe Bewertungsniveau vieler Aktien.
Die laufende Börsenkorrektur hat bereits zu einer spürbaren Anpassung sowohl der Anlegerstimmung als auch der Bewertungen geführt – was kaum überrascht: Denn die Bewertungen spiegeln letztlich immer auch die vorherrschende Stimmung am Markt wider.
Diese Faktoren sind jedoch meist vorübergehender Natur und nicht zwangsläufig ein Hinweis auf tiefgreifende wirtschaftliche Probleme.
Anders sieht es aus, wenn sich eine Korrektur zu einem Bärenmarkt ausweitet – also zu einem Rückgang von 20 % oder mehr, wie es in den Medien häufig definiert wird – und gleichzeitig eine spürbare Verschlechterung der wirtschaftlichen Fundamentaldaten einsetzt. In einem solchen Fall steigt das Risiko einer Rezession deutlich an.
Eine Rückkehr zur Realität
Wie wir bereits in unserem Artikel "Aktienmärkte sind von allem losgelöst" besprochen haben, führen Marktkorrekturen die Aktienkurse früher oder später wieder näher an die zugrunde liegenden wirtschaftlichen Fundamentaldaten heran.
„Während die Aktienkurse kurzfristig von der realen Wirtschaft abweichen können, kommt es früher oder später zu einer Rückkehr zur tatsächlichen Wachstumsdynamik. Der Grund: Unternehmensgewinne hängen direkt von Konsumausgaben, Investitionen, Importen und Exporten ab. Die Abkopplung des Marktes von der realwirtschaftlichen Entwicklung ist letztlich eine Frage der Psychologie – und das zeigte sich besonders deutlich im vergangenen Jahrzehnt, als zahlreiche geldpolitische Maßnahmen den Eindruck erweckten, dass ’diesmal alles anders ist’.“
Auch wenn die Korrelation zwischen Aktienmarkt und Wirtschaftsleistung nicht eins zu eins verläuft, ist sie dennoch vorhanden. So gingen die Unternehmensgewinne in den Jahren 2000 und 2008, als das Wirtschaftswachstum einbrach, um 54 % bzw. 88 % zurück – und das, obwohl im Vorfeld jeweils noch ein stetiges Gewinnwachstum erwartet wurde. Als die tatsächlichen Erträge hinter den Erwartungen zurückblieben, reagierten die Märkte mit Kursverlusten von fast 50 %, um die Bewertungen an die schwächeren Ist-Zahlen und die revidierten Wachstumsaussichten anzupassen.
Beide Einbrüche waren zudem durch externe Ereignisse – wie die Enron- bzw. Lehman-Pleiten – zusätzlich verstärkt worden.
Warum ist das relevant? Die folgende Grafik zeigt, dass sich Märkte und Gewinne in der Regel an den langfristigen Wirtschaftstrend anpassen, wenn sie sich zu weit davon entfernt haben – nicht umgekehrt. Wichtig dabei: Solche Anpassungsprozesse müssen nicht zwangsläufig mit einer Rezession einhergehen.
Für Anleger ist es entscheidend zu verstehen, dass nicht jede Börsenkorrektur automatisch ein Signal für eine bevorstehende Rezession ist.
Manchmal ist sie es – aber eben nicht immer.
Die zentrale Frage lautet daher: Welche Indikatoren können uns helfen zu erkennen, ob es sich bei der aktuellen Marktkorrektur nur um eine normale Marktbereinigung handelt – oder doch um ein frühes Warnzeichen für eine Rezession?
Was zu beachten ist
Es gibt keine eindeutige Methode, um mit Sicherheit festzustellen, ob eine Korrektur einfach nur eine normale Marktbewegung ist – oder bereits den Beginn einer Rezession signalisiert.
Wie ein Sherlock Holmes des Marktes müssen wir vielmehr einer Spur von Hinweisen folgen und die verfügbaren Daten sorgfältig analysieren, um eine fundierte Einschätzung abzugeben.
Dabei können verschiedene wirtschaftliche und technische Indikatoren wertvolle Anhaltspunkte liefern, um abzuschätzen, ob ein aktueller Marktabschwung möglicherweise auf eine bevorstehende Rezession hindeutet.
Wirtschaftliche Warnungen
Wenn es um Wirtschaftsdaten geht, sollten sich Anleger bewusst machen, dass viele dieser Kennzahlen erst mit zeitlicher Verzögerung veröffentlicht werden. Einige Indikatoren zeigen jedoch eine hohe Korrelation mit der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung und können daher als frühe Warnzeichen dienen.
Zu den aussagekräftigsten Signalen zählen etwa invertierte Renditekurven, rückläufige vorlaufende Wirtschaftsindikatoren (LEI), schwächelnde Einkaufsmanagerindizes im verarbeitenden Gewerbe und Dienstleistungssektor, sinkende Unternehmensgewinnprognosen sowie ausweitende Kreditspreads.
Wenn solche Faktoren mit einem spürbaren Rückgang am Aktienmarkt zusammentreffen, ist das häufig ein Zeichen dafür, dass sich die Wirtschaft an der Schwelle zu einem Abschwung befindet.
Aktuell jedoch gibt es nur wenige klare Signale, die auf einen bevorstehenden wirtschaftlichen Einbruch hindeuten. So befindet sich zum Beispiel unser Economic Output Composite Index – ein breiter Indikator, der über 100 unterschiedliche Datenpunkte umfasst, darunter die ISM-Umfragen und die führenden Wirtschaftsindikatoren (LEI) – nach wie vor im expansiven Bereich.
Berücksichtigt man außerdem eine gewichtete Betrachtung der ISM-Indizes für das verarbeitende Gewerbe und den Dienstleistungssektor, um ein ausgewogeneres Bild der Gesamtwirtschaft zu erhalten, ergibt sich aktuell kein Hinweis auf eine bevorstehende Rezession.
Der wichtigste Indikator, den wir aktuell im Blick behalten, sind jedoch die Kreditspreads. Sie gelten als Frühwarnsystem des Marktes, wenn sich eine gewöhnliche Korrektur in einen rezessiven Bärenmarkt verwandeln könnte. In unserem Artikel heißt es dazu unter anderem:
„Die Kreditspreads sind entscheidend, um die Marktstimmung zu verstehen und mögliche Abschwünge am Aktienmarkt frühzeitig zu erkennen. Ein Kreditspread ist der Renditeunterschied zwischen zwei Anleihen mit gleicher Laufzeit, aber unterschiedlicher Bonität. Häufig wird dabei der Unterschied zwischen Staatsanleihen (die als risikofrei gelten) und Unternehmensanleihen (die ein Ausfallrisiko tragen) betrachtet. Anhand dieser Spreads lässt sich die Risikobereitschaft am Markt einschätzen – und mögliche Stresspunkte erkennen, die oft einer Korrektur an den Aktienmärkten vorausgehen.“
Die folgende Abbildung zeigt den Spread zwischen Unternehmensanleihen mit BB-Rating – auch bekannt als High Yield, Ramsch oder Junk Bonds – und dem "risikofreien" Zinssatz von US-Staatsanleihen.
Zwar sind die Renditespreads zuletzt leicht gestiegen, doch bislang deutet das eher auf eine normale Marktkorrektur hin – nicht auf eine akute Rezessionsgefahr.
Wie bereits erwähnt, werden viele dieser Daten zeitverzögert erhoben und veröffentlicht – was heute gültig scheint, kann sich morgen schon geändert haben.
Gerade deshalb ist es für Anleger wichtig, auch technische Warnsignale im Blick zu behalten. Sie können oft schneller auf Veränderungen in der Marktstimmung und dem Risikoappetit reagieren – und so frühe Hinweise liefern, noch bevor sich diese in den Fundamentaldaten widerspiegeln.
Technische Warnsignale
Mehrere technische Indikatoren deuten aktuell darauf hin, dass die laufende Korrektur noch nicht am Ende sein muss.
So hat der Markt wichtige langfristige gleitende Durchschnitte unterschritten, die Marktbreite hat deutlich abgenommen – sprich: immer weniger Aktien beteiligen sich an Erholungen – und Spitzen bei der Volatilität (gemessen am VIX) sind historisch betrachtet häufig Frühwarnzeichen für eine bevorstehende Rezession.
Technisch gesehen sind diese Warnsignale vorhanden. Allerdings werden sie bislang nicht durch die Wirtschaftsdaten bestätigt – zumindest noch nicht.
Zwar hat sich die Stimmung unter den Anlegern deutlich eingetrübt, doch die Bargeldbestände bleiben auffallend niedrig.
Würden sich die Marktteilnehmer tatsächlich auf deutlich schwierigere wirtschaftliche Zeiten einstellen – wie etwa in den Jahren 2000 oder 2008 – wäre wohl ein deutlich höheres Maß an Liquidität zu beobachten.
Das aktuelle Verhalten spricht also nicht dafür, dass der Markt bereits in eine echte Rezessionsphase übergeht.
Fazit
Der Wert des Aktienmarktes als Rezessionsindikator liegt vor allem in seiner Fähigkeit, zukünftige Erwartungen abzubilden. Diese spiegeln sich in den Gewinnerwartungen der Wall Street wider, die ihrerseits stark von der wirtschaftlichen Entwicklung beeinflusst werden.
„Wenn man sich die aktuellen Prognosen anschaut, ist zwar etwas von der früheren Euphorie gewichen, doch Analysten rechnen für das kommende Jahr nach wie vor mit einem Gewinnwachstum von rund 16 % im Jahresvergleich. Solange es hier keine deutliche Trendwende gibt, ist es eher unwahrscheinlich, dass sich die derzeitige Marktkorrektur zu einem tiefergehenden Abwärtstrend ausweitet.“
Ja, die Märkte überreagieren gelegentlich – oder senden Fehlalarme. Dennoch reagiert der Aktienmarkt in der Regel schneller als historische Wirtschaftsdaten, die oft erst mit deutlicher Verzögerung veröffentlicht und später nochmals revidiert werden.
Anleger, die den Zusammenhang zwischen Marktbewegungen und übergeordneten wirtschaftlichen Trends verstehen, sind klar im Vorteil: Sie können Risiken besser einschätzen und fundiertere Entscheidungen treffen.
Statt auf jeden Rücksetzer mit Emotion zu reagieren, sollten Anleger prüfen, ob der Abverkauf auf fundamentale Schwächen oder eher auf kurzfristige Störungen zurückzuführen ist.
Kommt es zu einem breiten Marktrückgang, der von einer Verschlechterung der Unternehmensgewinne, nachlassendem Wachstum und schwächeren Wirtschaftsindikatoren begleitet wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Rezession anbahnt.
In solchen Phasen kann es sinnvoll sein, die Anlagestrategie vorsichtiger auszurichten, das Portfolio breiter über verschiedene Anlageklassen zu diversifizieren und eine langfristige Perspektive einzunehmen – um so wirtschaftliche Abschwünge besser zu überstehen und das Kapital zu schützen.