Militäranalyst: Dammbruch ändert militärischen Kriegsverlauf kaum

Veröffentlicht am 09.06.2023, 06:06
Aktualisiert 09.06.2023, 06:15
© Reuters

ZÜRICH (dpa-AFX) - Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms dürfte nach Einschätzung eines Militäranalysten aus Zürich wenig unmittelbaren Einfluss auf den militärischen Verlauf des russischen Kriegs gegen die Ukraine haben. Der Staudamm liegt am Fluss Dnipro, der in der Region im Süden der Ukraine die Frontlinie im Gebiet Cherson bildet. "Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Ukraine eine Überquerung des Dnipro als gewichtige Offensivachse vorgesehen hatte", sagte Niklas Masuhr, Forscher am Center for Security Studies der Universität ETH in Zürich, der Deutschen Presse-Agentur.

Dies hänge mit den hohen Risiken einer solchen Überquerungsoperation gegen vorbereitete russische Kräfte zusammen, sagte Masuhr. "Im engeren militärischen Sinne ist also nicht offensichtlich, wie der Dammbruch den Krieg kurzfristig in die eine oder andere Richtung schieben könnte."

Die Schwerpunkte der angekündigten ukrainischen Gegenoffensiven würden eher aus nördlicher Richtung in Saporischschja und in den östlichen Regionen von Donezk und Luhansk vermutet. Die Offensivbemühungen seien in jüngster Zeit "einige Gänge hochgeschaltet" worden.

Beim aktuellen Informationsstand könne er nicht einschätzen, wie der Dammbruch zustande gekommen sei, und dementsprechend auch nicht, wer verantwortlich sei, sagte Masuhr. "Der Dammbruch dürfte in der ukrainischen Führung keinen allzu großen Schock ausgelöst haben", sagte Masuhr. Über die Option der russischen Truppen, den Damm zu sprengen, sei seit einigen Monaten spekuliert worden. "Es wäre überraschend, falls dies nicht Teil von Kalkulationen für die Gegenoffensiven gewesen wäre."

Weil ukrainische Gegenangriffe auf von Russland besetztes Gebiet im Südsektor durch die Überschwemmungen zunächst schwieriger wären, könne Russland womöglich Truppen abziehen und an andere kritische Frontabschnitte verlegen, sagte Masuhr. Das gleiche gelte aber grundsätzlich für die Ukraine, sollte sie Kräfte vorgehaltenhaben, um vom Westufer aus Schwächephasen der Russen für Angriffe auszunutzen, etwa im Falle von Durchbrüchen in Saporischschja. Unklar sei zudem, wie viel russische Ausrüstung auf der tiefer gelegenen Ostseite des Dnipro durch die Überschwemmungen verloren gehen wird.

Die Ukraine sei auf anhaltenden Nachschub an Artillerie und Luftabwehrmunition angewiesen, sagte Masuhr. "Die Ukraine braucht in dieser Kriegsphase alles, und in größeren Mengen als zuvor", sagte er. "Munitions- und Materialverbrauch gehen bei Offensivoperationen deutlich hoch." Wie hoch die ukrainischen Reserven aktuell sind, sei schwer zu sagen. "Die Frage ist ja: Wie viel ist die ukrainische Führung bereit, in die Gegenoffensive zu investieren, und wie viel will sie zurückhalten, falls der Krieg länger anhält", sagte Masuhr.

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