BERLIN (dpa-AFX) - Die Menschen in Deutschland müssen ihren Verbrauch von Gas künftig noch deutlich stärker einschränken als bisher, um die Energieversorgung in der Bundesrepublik zu sichern und bis 2045 Klimaneutralität zu erreichen. Das ist das zentrale Ergebnis einer umfassenden Energiestudie von 30 Forscherinnen und Forschern aus dem vom Bund geförderte Kopernikus-Projekt Ariadne, das am Donnerstag in Berlin veröffentlicht wurde. "30 Prozent des Gasverbrauchs aus Vorkrisenzeiten müssen runter", sagte Gunnar Luderer, Vize-Leiter des Ariadne-Projekts vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
Mit Einsparungen in dieser Größenordnung könne man nicht nur eine Gasmangellage mit Lieferunterbrechungen vermeiden. "Wir können damit auch die Gaspreise und verbleibenden Importabhängigkeiten auf ein erträgliches Maß begrenzen." Kurzfristig sei dies der wichtigste Baustein, um Deutschlands Energiesouveränität und geopolitische Widerstandskraft wieder zu erhöhen.
Die Fachleute aus dem Kopernikus-Projekt Ariadne haben verschiedene Modelle und Szenarien durchgerechnet, wie Deutschland einen Weg aus der Gaskrise finden kann. Die Studie zeige, dass Energiesicherheit und Klimaschutz dabei miteinander vereinbar seien.
Die Wissenschaftler gehen von einem Szenario aus, dass vom kommenden Jahr an in Deutschland ohne jegliche Importe aus Russland vermutlich nur noch Gas in einer Größenordnung von etwa 600 Terawattstunden (TWh) pro Jahr zur Verfügung stehen wird. 2022 waren es noch rund 200 TWh mehr. Rund 50 TWh kommen dabei aus der heimischen Förderung. "Diese Menge (von 600 Terawattstunden) ergibt sich somit als grobe Obergrenze für den Erdgasverbrauch, wenn Deutschland unabhängig von russischen Gaslieferungen sein soll", heißt es in der Studie.
Allein die Verringerung des Gasverbrauchs führe zu einer CO2-Minderung von 50 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr im Vergleich zu dem Mittelwert aus den Jahren 2017 bis 2021. Ein Teil der Gasminderung gehe zwar mit einem Brennstoffwechsel auf Kohle oder Heizöl einher. Die dadurch entstehenden Mehremissionen seien jedoch durch den europäischen Emissionshandel gedeckelt.
Bei den privaten Gaskunden verzeichnet die Studie bislang noch keine umfassende Einsparung des Gasverbrauchs. Bei Kleinverbrauchern werde Gas im Wesentlichen zum Heizen verwendet. Hier seien die Abweichungen vom Verbrauchsniveau der Vorjahre bisher vor allem witterungsbedingt. So hätten die Verbraucher im ersten Halbjahr im Vergleich zu 2021 zwar 16 Prozent weniger Gas verbraucht. Dabei sei aber zu berücksichtigen, dass die Witterung in diesem Jahr deutlich milder gewesen sei. Temperaturbereinigt hätten die privaten Haushalte und der Sektor "Gewerbe-Handel-Dienstleistungen" im ersten Halbjahr nur knapp drei Prozent weniger Erdgas nachgefragt.
Bei der Stromerzeugung sei im Vergleich zum Jahr 2021 bislang weniger Gas verwendet worden, gemessen am langjährigen Mittel sei der Wert aber konstant. "Die Industrie hingegen reagiert deutlich sensibler auf die hohen Preise: Bisher ist der industrielle Gaseinsatz im Jahr 2022 um etwa 20 Prozent gegenüber den Vorjahren zurückgegangen", heißt es in der Studie.
Das größte Potenzial für die kurzfristige Senkung des Gasverbrauchs im Gebäudesektor liege in einem geänderten Heizverhalten in den eigenen vier Wänden, sagte Christoph Kost vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. Der Wissenschaftler sprach sich für das Absenken der Raumtemperatur um ein oder zwei Grad, die Nutzung der Heizung nach Bedarf statt im Dauerbetrieb und intelligente Heizungsregler aus. "Zusammen mit einem beschleunigten Hochlauf von Wärmepumpen, dem Anschluss an Fern- und Nahwärmenetze und einer stärkeren energetischen Sanierung des Gebäudebestands ließen sich im Gebäudesektor kurzfristig gut 30 Prozent des Gasbedarfs einsparen. Die beschleunigte Wärmewende senkt auch langfristig den Gasbedarf und bringt den Sektor auf Kurs für die Klimaneutralität."
Mit Blick auf die aktuelle Debatte um die Laufzeitverlängerungen der drei Kernkraftwerke in Deutschland sagte PKI-Forscher Loderer, der Effekt auf den Gasverbrauch werde überschätzt. Der Weiterbetrieb bis April 2023 führe "vor allem zu zusätzlichen Stromexporten und senkt die Klimagasemissionen, trägt aber nur unwesentlich zu Gaseinsparungen in Deutschland bei".