Investing.com – Im September 2022 wurde der europäische Energiemarkt durch den Sprengstoff-Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines erschüttert. Nur wenige Tage zuvor hatte Russland die Lieferung von Erdgas eingestellt. Die Verbündeten der Ukraine hatten den Täter in Moskau schnell ausfindig gemacht. Doch das Argument, welchen Vorteil Putin davon habe, warf erste begründete Zweifel.
Deutsche Ermittler haben den Anschlag untersucht und eine Spur bis nach Kiew verfolgt. Untermauert wird ihre Arbeit durch einen Geheimdienst-Leak, laut dem der ukrainische General Valerii Zaluzhnyi diese Operation befehligte.
Anschlag auf den Kachowka-Staudamm: Medien vermuten Moskau als Täter
Am gestrigen Dienstag kam es nur einen Tag nach dem Beginn der lang angekündigten ukrainischen Gegenoffensive zu einem Anschlag auf den Kachowka-Staudamm. Wie bereits bei dem Nord-Stream-Anschlag waren die Medien schnell dabei zu urteilen, wer dieses Kriegsverbrechen begangen hat – Moskau.
Wie üblich können jedoch weder Russland noch die Ukraine handfeste Beweise dafür vorlegen, wer für die Dammsprengung verantwortlich ist.
Während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Russland des "Terrors" bezichtigte, erhob der Kreml seinerseits Vorwürfe gegen die Regierung in Kiew, sie habe die Sabotage herbeigeführt. Viele Informationen rund um den Ukraine-Krieg lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Ukrainische Gegenoffensive und mögliche Motive für die Dammsprengung
Am 29. Dezember 2022 berichtete die Washington Post über ein Gespräch mit dem ukrainischen Generalmajor Andrej Kowaltschuk. Dieser war im November mit der Gegenoffensive rund um Cherson betraut gewesen. Er erläuterte, dass man der russischen Vorhut den Nachschub abschneiden könne, indem eine Überflutung des Gebiets verursacht wird.
Der Dnipro, wo sich der Kachowka-Staudamm befindet, ist einer der wichtigsten Flüsse in der Ukraine. Er ist mit einer Länge von etwa 2.285 Kilometern der längste Fluss, der sowohl durch die Ukraine als auch durch Belarus fließt. In Bezug auf den Ukraine-Krieg und die militärischen Aktivitäten gibt es auch strategische Aspekte in Verbindung mit dem Dnipro. Wegen seiner geografischen Lage kann der Fluss als natürliche Grenze und Hindernis dienen, was militärische Bewegungen und Operationen maßgeblich beeinflusst.
Es gab laut Kowaltschuk sogar einen Test mit einem HIMARS-Raktenwerfer. So sollte herausgefunden werden, ob man eine ausreichende Explosionswirkung erzielen kann, um die Versorgungslinie der Russen zu zerstören, allerdings, ohne dass Dörfer überflutet werden. Nach Aussagen des Generalmajors war der Test ein Erfolg, denn an einem der Fluttore konnte das gewünschte Schadensbild erzeugt werden.
Das legt nahe, dass der Kachowka-Staudamm bereits fester Bestandteil der militärischen Planspiele war und diese militärstrategisch nützliche Karte je nach Lage ausgespielt werden kann.
Der ukrainische Präsident Selenskyj bezeichnete den jüngsten Anschlag als eine von Russland gezündete ökologische Massenvernichtungswaffe. Die Behauptung des Kremls, dass die Ukraine selbst den Damm gesprengt habe, wies er mit folgender Begründung zurück:
"Russland kontrolliert den Kachowka-Damm mit dem Wasserkraftwerk seit über einem Jahr … es ist physisch unmöglich, ihn von außen durch Beschuss zu zerstören."
Die Schwierigkeit der lange vorbereiteten Gegenoffensive der Ukraine ist darin begründet, dass sich die Gegenseite mit dem Ausheben von Verteidigungsstellungen und der Verminung des Damms darauf vorbereitete. Somit dürfte der Ukraine und den Verbündeten bewusst gewesen sein, dass solch ein Vorhaben nur mit erheblichem Verlust von Mensch und Material einhergeht.
Dennoch ist es wichtig, Erfolge mit dem Zurückschlagen des russischen Angriffskriegs vorzuweisen, um die Unterstützung der Verbündeten weiter zu gewährleisten.
Am Montag war aus Moskau zu hören, dass die ukrainische Gegenoffensive gescheitert sei, ohne dass es dafür konkrete Beweise gab. Daraufhin räumten westliche Militärexperten ein, dass eine strategische Gegenoffensive Tage, wenn nicht sogar Wochen benötigt, um sich zu entfalten.
Unter der Annahme, dass zu dem erheblich zu erwartenden Widerstand auch noch eine verpatzte erste Phase der Gegenoffensive hinzukam, könnten die ukrainischen Militärstrategen dazu geraten haben, den Kachowka-Staudamm zu sprengen, um eine neue Unbekannte ins Spiel zu bringen.
Davon hätte die ukrainische Seite laut Medienberichten verschiedene Vorteile. Die auf russischer Seite mühsam angelegten Verteidigungsstellungen werden überschwemmt, was die Gegenoffensive erleichtern könne.
Hinzu kommt das Kernkraftwerk Saporischschja, welches auf das Kühlwasser aus dem Stausee angewiesen ist. Im Idealfall sollten die bereits vorhandenen Kühlwasserkapazitäten mehrere Monate halten. Dennoch könnte der drohende Havariefall die russischen Truppen dazu zwingen, ihre Verteidigungsstellungen in der Umgebung des Kernkraftwerks aufzugeben.
Die Internationale Atomenergiebehörde forderte Russland bereits auf, die Besatzung des Kernkraftwerks aufzugeben, damit Techniker dafür Sorge tragen können, dass es zu keiner Havarie kommt.
Die ukrainische Regierung kann in Anbetracht eines neuen Kriegsverbrechens Moskaus weiter auf die Unterstützung der Verbündeten zählen. Als Konsequenz dieses Ereignisses forderte der ukrainische Präsident bereits eine energische, gemeinsame Verteidigung Europas gegen Russland.
Expertenmeinung: Panikreaktion Russlands und Zerstörungswille Putins
Der Militärexperte Gustav Gressel spricht indes davon, dass die Sprengung eine Panikreaktion Russlands war. Er verweist darauf, dass bereits im November berichtet wurde, dass der Staudamm von russischer Seite vermint sei, weshalb er überzeugt ist: "Das war eine russische Sprengung".
Zu der Erkenntnis, dass es sich um eine Panikreaktion handeln müsse, kommt er, weil die Sprengung keinerlei militärischen Nutzen für Russland habe:
"Die Ukraine greift gerade weit östlich an, das ist relativ weit entfernt vom Chersoner Oblast … Aufgrund der geringen amphibischen Kapazitäten könnte die Ukraine einen Angriff über den Fluss nur als Entlastungsangriff durchführen, wenn im Chersoner Oblast schon mit konventionellen Streitkräften gekämpft wird … Mit amphibischen Flussübergängen der Ukrainer ist deshalb frühestens erst in einem Monat zu rechnen".
Sollte die Sprengung von Moskau veranlasst wurden sein, dann nur aus einem einzigen Grund, wie Gressel sagt:
"Putin kann die Ukraine nicht bekommen, jetzt muss sie kaputtgemacht werden".
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel erklärte gegenüber dem ZDF, dass die Ukraine zum Beginn des Angriffskriegs nördlich von Kiew einen Damm im Irpin sprengte, um den Vormarsch der russischen Armee zu verlangsamen. Die dadurch ausgelöste Überschwemmung war zwar nicht so ausgeprägt wie beim Kachowka-Staudamm, wurde aber zum Erreichen der militärstrategischen Ziele in Kauf genommen. Neitzel sagte:
"Beide Seiten setzen solche Waffen ein, um mit Wasser die jeweils gegnerische Seite zu bremsen."
Der große Unterschied ist jedoch, dass die Ukraine dies zur Verteidigung des eigenen Landes macht. Die Folgen für Landwirtschaft und Menschen sind aber gleichermaßen negativ, erklärte Neitzel.