Durch den Brexit 2020/21 und durch die Coronapandemie waren britische Unternehmen in letzter Zeit gleich doppelt gestraft. Viele Arbeitskräfte aus Europa mussten das Land verlassen, nachdem Großbritannien aus der EU ausgetreten war. Während der Pandemie gingen viele Ältere frühzeitig in Rente und Junge verlängerten ihre Ausbildungszeit. Durch den dadurch entstandenen Engpass bei Arbeitskräften ist die Zahl der offenen Stellen mit 1.247 Millionen (Stand von Januar 2022) zurzeit so hoch wie nie zuvor. Der Fachkräftemangel betrifft vor allem die Bereiche Pflege, Landwirtschaft und Gastronomie und war besonders deutlich und öffentlichkeitswirksam bei Speditionen zu spüren, die aufgrund fehlender Lkw-Fahrer nicht mehr ausreichend Kraftstoff an Tankstellen verteilen konnten.
Die Sorge über einen durch den Arbeitskräftemangel entstehenden Lohndruck war so groß, dass die Bank of England sogar im vergangenen Dezember den Leitzins von 0.1% auf 0.25% erhöhte, um eine Verschärfung der ohnehin schon hohen Inflation zu verhindern. Allerdings sind die Löhne am britischen Arbeitsmarkt tatsächlich nur mäßig gestiegen und Analysten rechnen insgesamt für 2022 mit einem Wachstum von moderaten 3.5%, wodurch sich die Inflationsgefahr abschwächen dürfte. Dennoch hat die Bank of England den Leitzins mit knapper Mehrheit bei ihrer letzten Sitzung am 3. Februar noch einmal um 0.25%, und damit auf 0.5%, erhöht und bereits eine mögliche Anhebung auf 1.5% bis Mitte 2023 angekündigt. Grund dafür ist die Inflation, die nun durch die explodierenden Energiepreise doch schneller und höher steigt als bisher erwartet. Neue Prognosen rechnen mit einem Maximum von 7.25% im April. Auch werde die Inflation laut der Notenbank länger andauern als gedacht und erst in etwa zwei Jahren wieder zurück auf 2% sinken.
Während die Bank of England also den Leitzinssatz erweitert, findet dank des Mangels an Jobbewerbern am britischen Arbeitsmarkt gerade eine Art Horizonterweiterung statt. Immer mehr Arbeitgeber sind gewillt, Kandidaten eine Chance zu geben, gegenüber denen sie bislang höchst skeptisch waren: Menschen ohne festen Wohnsitz und ehemaligen Straftätern. Unterstützt werden diese Kandidaten von sozialen Organisationen wie Interventions Alliance, die Ex-Straftätern dabei hilft, Anstellungen zu finden, oder wie Beam, die Wohnungslose bei der Arbeitssuche unterstützt. Beam schätzt, dass sich das Interesse von Arbeitgebern an diesen Bewerbern seit Beginn der Pandemie verdreifacht hat. Die Hilfsorganisation musste ihren Betrieb aufstocken und konnte so dieses Jahr bisher 30 Menschen pro Monat zu Arbeit verhelfen. Im Jahr 2019 dagegen waren es nur 3 pro Monat gewesen. Beam sucht den wohnungslosen Jobkandidaten dabei nicht nur eine Unterkunft, sondern stellt auch Bewerbungsmittel, wie etwa Laptops, trainiert für Bewerbungsgespräche und vermittelt Kontakte. Diese Unterstützung ist wichtig und soll den Teufelskreis aus Obdach- und Arbeitslosigkeit brechen. Denn schließlich ist es schwer, sich ohne feste Adresse für einen Job zu bewerben und ebenso schwer, ohne regelmäßiges Einkommen eine Wohnung zu finden.
Die meisten britischen Unternehmen hatten nach dem Brexit über dessen negative Auswirkungen geschimpft: Schwierigkeiten beim Zoll, geänderte Lieferregelungen und -bedingungen und Hürden bei der Einstellung von Wanderarbeitern. Doch die meisten bleiben trotz allem positiv und gehen von einer baldigen Verbesserung sowohl des Arbeitskräftemangels als auch der Betriebsbedingungen aus.
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