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Die OECD sieht erhebliche Herausforderungen für den Standort Deutschland – und empfiehlt unter anderem eine große Steuerreform. Außerdem warnt die Organisation vor einem Abschied von der Globalisierung.
Der Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Mathias Cormann, gab dem „Spiegel“ in dieser Woche ein Interview (hinter Paywall). Thematisiert wurden der Standort Deutschland und die aktuellen Herausforderungen.
Diese Herausforderungen bilden laut Cormann derzeit eine „lange Liste“. Dazu gehörten etwa die marode Infrastruktur, der Mangel an Fachkräften, die demographische Entwicklung und Rückstände bei der Digitalisierung.
Steuerreform für mehr Arbeitskräfte
Cormann verlangte, Frauen müssten sich wegen der zunehmenden Alterung der Erwerbsbevölkerung stärker in den Arbeitsmarkt einbringen können. Dafür müsse der Staat jedoch die wesentlichen Rahmenbedingungen setzen. So müsse die Einkommensteuer so angepasst werden, dass Zweitverdiener entlastet würden.
Doch es geht nicht nur um Zweitverdiener: Die Industriestaatenorganisation empfiehlt generell eine „große Steuerreform“. Tatsächlich liegt Deutschland in den regelmäßigen OECD Statistiken zur Abgabenbelastung stets weit vorn. In der im Frühjahr veröffentlichten Statistik war Deutschland „Vizeweltmeister“.
48,1 % Abgabenlast: Deutschland Vizeweltmeister
Ein Single mit einem durchschnittlichen Einkommen musste demnach 2021 48,1 % seines Gehalts an den Fiskus abführen – sei es in Form von Steuern oder von Sozialbeiträgen. Nur in Belgien liegt die Last noch (geringfügig) höher. Im Durchschnitt der OECD-Staaten liegt die Abgabenlast bei lediglich 34,6 %.
Wenn z.B. 50.000 EUR ein durchschnittlicher Jahresbruttoverdienst sind, dürfen alleinstehende Arbeitnehmer davon in Deutschland 25.950 EUR behalten. Bei einer Absenkung der Abgabenlast auf das durchschnittliche OECD-Niveau würde dieser Betrag auf 32.700 EUR ansteigen – ein Plus von 26 %, das allerdings selbst im Fall einer großen Steuerreform ausgesprochen unwahrscheinlich erreicht werden dürfte.
Warnung vor Subventionierungswettlauf
Cormann warnte vor einem Abschied von der Globalisierung. Durch Demokratie und Freihandel hätten Stabilität, Frieden und Fortschritt in nie dagewesenem Umfang Einzug gehalten. Es gelte, Kapitalismus und Globalisierung zu verbessern – und nicht abzulösen.
Cormann warnte in diesem Zusammenhang auch vor einem Subventionierungswettlauf und führte als Beispiel die staatlichen Zuschüsse in den USA und Europa für Chipfabriken an. „Ich glaube nicht, dass letztlich irgendjemand davon profitiert, wenn es nur noch darum geht, wer mehr subventionieren kann“.
Eine unangemessene staatliche Unterstützung für den privaten Sektor könne den globalen Wettbewerb verzerren. Dabei hätten Globalisierung und Kapitalismus für „gewaltige Innovationen, eine massive Erhöhung des Lebensstandards und große ökonomische Sicherheit“ gesorgt.
Multiple Krise: Deutsche Handelsbilanz rutscht ins Minus
Das deutsche Wirtschaftsmodell steht von vielen Seiten unter Druck. Gravierend ist die Energiekrise. Strom und Gas sind in Deutschland – auch, aber nicht nur – durch den Ukrainekrieg so teuer wie nie zuvor. Dies setzt die gesamte Wirtschaft, insbesondere aber die energieintensive Industrie erheblichen Schwierigkeiten aus – zahlreiche Fabriken haben bereits den Betrieb eingestellt.
Gleichzeitig endet eine Ära, in der China mit seiner Nachfrage nach deutschen Produkten sämtliche Konjunkturdellen ausgleicht. Das Reich der Mitte befindet sich selbst in einer konjunkturellen Schwächephase – und hat in vielen deutschen Schlüsselmärkten wie etwa in der Automobilindustrie längst den Status eines Wettbewerbers erreicht.
Auf viele disruptive Veränderungen kann Deutschland nur begrenzt reagieren. Ein Beispiel dafür ist die Verkehrswende und der damit einhergehende Umstieg auf Elektromobilität. Dafür werden große Mengen an kritischen Mineralien benötigt, auf die Deutschland nur mit großen Mühen Zugriff erhält.
Die neue Realität zeigte sich bereits im Mai. Damals berichtete Deutschland erstmals seit 1991 ein Handelsbilanzdefizit. Darin spiegeln sich die höheren Energiekosten wider. Öl und Gas müssen aus dem Ausland importiert werden und steigern bei höheren Preisen die Summe der Importe.
Auch steigende Preise für Vorleistungsgüter und ein genereller Trend zur geopolitischen Blockbildung treffen die überproportional von Industrieproduktion und freiem Welthandel abhängige deutsche Wirtschaft hart.