Es war ein unerwarteter Bullen-Lauf. Es scheint aber auch eine unerwartete Schwelle erreicht zu haben. Hier ist also die unvermeidliche Frage: Ist die Rallye des Silberpreises vorbei? Oder ist die Rutsche der letzten beiden Tage nur ein kleiner Ausrutscher in einem übergeordneten Aufwärtstrend, der das Industriemetall bis auf 25 Dollar je Unze treiben könnte?
Die Silber-Futures an der COMEX-Sparte der New Yorker Mercantile Exchange erreichten am Montag mit 18,95 Dollar den höchsten Stand seit neun Monaten. Fünf Wochen brauchte es für den Breakout auf der Oberseite, den nicht viele vorausgesagt hatten, zumal die Volkswirtschaften erst allmählich ihre Corona-Regeln lockern.
Seit diesem Höchststand scheint der Referenzkontrakt per Juli-Lieferung etwas an seinem positiven Momentum eingebüßt zu haben und fiel am Mittwoch im europäischen Handel auf 18,09 Dollar je Unze.
Der Rückgang um 4% in den letzten 48 Stunden folgt auf eine Rallye von 27% seit der Woche zum 24. April.
Silber legt den Schalter um
Als eines der Metalle mit der einzigartigen Fähigkeit, je nach Bedarf vom Edelmetall- in den Industriemodus zu wechseln, könnte Silber angesichts des Tempos der Erholung an den Rohstoffmärkten seit dem Tiefpunkt der COVID-19-Krise viel weiter gehen, als die Charts zeigen, sagt Philip Streible, Metallstratege bei Chicagos Blue Line Futures.
"Silber muss sich entscheiden, welchen Hut es an welchem Tag aufsetzen will", sagte Streible nach dem gestrigen Preisrückgang zusammen mit Gold und Platin, ausgelöst durch die höhere Risikobereitschaft an den internationalen Finanzmärkten.
"Die Rolle, die sich die Anleger für Silber vorstellen, wird darüber entscheiden, ob es auf längere Sicht 25 oder 15 Dollar erreichen wird", sagte Streible gegenüber Investing.com.
"Ich setze immer noch auf steigende Silber-Notierungen, weil die Produktion in einer Welt nach COVID-19 voraussichtlich wieder anziehen wird. Die fortgesetzte Bereitstellung von Konjunkturimpulsen durch die US-Notenbank könnte auch dazu führen, dass Silber zu einem "Buy-and-Hold"-Asset oder zum Wertspeicher von Vermögen wie Gold wird."
Silber wird in Schmuck und Silberbesteck verwendet und ist auch in der Herstellung von Spiegeln, Zahn-, Löt- und Hartlötlegierungen sowie von elektrischen Kontakten und Batterien enthalten.
Silbers Vergangenheit gibt Anlass zur Sorge
Aber Silber hat in der Vergangenheit auch viele Frühzündungen erlebt. Am 18. März erreichte es an der COMEX mit 11,74 Dollar ein Elfjahrestief, gerade als sich der Ausbruch des Coronavirus zu einer globalen Pandemie entwickelte.
Und während manche darin eine gewisse Parallele zu Gold sehen, hat sich das Verhältnis von Silber zu Gold, das sich aus der Division des aktuellen Goldpreises durch den Silberpreis ergibt, in den letzten neun Monaten tatsächlich noch verschärft. Im September lag der XAU/XAG bei etwa 85:1. Jetzt steht die Ratio bei etwa 95:1, da die {Gold-Futures gegenüber dem Vorjahr um 13% gestiegen sind, während Silber nur um 2% zugenommen hat. Das ist eines der höchsten Niveaus seit 1991. Damals erreichte die Ratio fast 100 während des Golfkrieges in der Ära von Saddam Hussein, als geopolitische Bedenken die Anleger in Gold trieben.
Kann Silber noch in diesem Jahr auf 20 Dollar steigen?
Ungeachtet all dessen geht Streible davon aus, dass der weltweite Trend zu negativen Zinssätzen eine starke Unterstützung für das duale Metall Silber darstellen dürfte, welches eine Rückkehr auf 20 Dollar pro Unze sehen könnte - ein Niveau, das zuletzt im Jahr 2016 erreicht wurde. Sollte das weiße Metall auf die 25-Dollar-Marke klettern, wäre es das erste Mal seit 2013.
"Das Beta oder die Veränderungsrate für Silber wird bei einer Nachfrageverschiebung 1,5 bis 2,0 Mal schneller als bei Gold sein", fügt Streible hinzu.
"Die Menschen werden sich wegen Marktmanipulation aufregen, sobald sie sehen, dass dies geschieht, aber das liegt einfach in der Natur der Bestie. Auf der Nachfrageseite sind etwa 70% des Silberverbrauchs bereits in der elektrischen und thermischen Leitfähigkeit begründet, und es könnte nicht mehr lange dauern, bis das gesamte Dach eines EV-Autos wie Tesla (NASDAQ:TSLA) aus einem Solarpaneel mit Silber als Leiter bestückt wird.
Charttechnik unterstützt Silber-Rallye
Technisch betrachtet scheint Silber in einer durchaus vielversprechenden Position zu sein, um sich mindestens der Marke von 20 Dollar je Unze anzunähern. Der "Technische Ausblick" von Investing.com zeigt einen "Starken Kauf" für Silber zur Juli-Lieferung, mit einem maximalen Aufwärtspotenzial von 19,59 Dollar. Beim aktuellen Preis bestünde damit Spielraum für einen weiteren Anstieg um 8%.
Obwohl der relative Stärke-Indikator für Silber auf überkaufte Bedingungen hindeutet, die einen Rückfall auf das Niveau vom 20. Mai nahe der 17,63 Dollar-Marke erwarten lassen, fehlt dem Markt möglicherweise ausreichend Abwärtsdruck, um ihn unter den gleitenden 200-Tage-Durchschnitt von 16,97 Dollar zu drücken, schrieb Analyst Anil Panchal in einer Kolumne auf FXStreet.
Panchal fügte hinzu:
"Wenn es den Verkäufern überhaupt gelingt, die 200-Tage-Linie bei Silber auf Tagesschlusskursbasis zu durchbrechen, kann das 61,8% Fibonacci-Retracement des Abwärtsimpulses vom September 2019 bis März 2020 bei gut 16,60 Dollar weitere Rückgänge begrenzen.
"Im Großen und Ganzen bleiben die charttechnischen Perspektiven jedoch konstruktiv und ein Spurt über den Widerstand bei 18,39 Dollar kann den nächsten Bullen-Run in Richtung der mehrtägigen Widerstandslinie bei 18,57 Dollar lostreten. Danach würde die obere Begrenzungslinie des Kanals bei 18,95 Dollar ins Visier rücken".
Silber: Erst 20 Dollar, dann 15 Dollar?
Eli Tesfaye, Metallstratege bei RJO Futures in Chicago, stimmt mit Streibles These überein, dass Silber vorerst noch Spielraum nach oben hat.
Er vertritt jedoch die Ansicht, dass negative Zinssätze den Silberpreis belasten dürften, und argumentiert, dass dies im weiteren Verlauf zu einer Art Deflationsangst führen wird, weil die Fed die Zinsen in den negativen Bereich senkt, wo sie wahrscheinlich eine Weile bleiben werden.
"Aus technischer Sicht deutet der Wochenchart für Silber auf neue Hochs hin", sagte Tesfaye in einer E-Mail an Investing.com.
"Meiner Ansicht nach wird Silber erst die 20 Dollar-Marke sehen, bevor es 15 Dollar sinkt. Kurzum, wir werden wahrscheinlich kurzfristig höhere Kursnotierungen sehen, bevor eine größere Korrektur einsetzen wird".