von Robert Zach
Investing.com - Der rasche Ausverkauf beim Ölpreis Anfang September kam für viele Investoren überraschend, nachdem sie sich seit dem Crash im April an stetig steigende Preise an den Ölmärkten gewöhnt hatten. Allerdings gibt es an den Märkten keine Einbahnstraße.
Während die Ölpreis-Rallye immer wieder mit den Maßnahmen der Opec bei einer sich erholender Nachfrage begründet und zuletzt auf die Schwäche des US-Dollars zurückgeführt wurde, wirken die gleichen Kräfte jetzt in die andere Richtung.
Die Opec fördert seit Anfang August wieder mehr, die Nachfrageerholung verliert infolge der Angst vor einer zweiten Corona-Welle an Dynamik und der US-Dollar erholt sich. Als zusätzlicher Unsicherheitsfaktor kommt noch hinzu, dass Libyen schon bald wieder kräftig im Ölgeschäft mitmischen will. Kein Wunder also, dass der Ölpreis in den vergangenen Wochen wieder zunehmend ins Visier der Spekulanten gerät, die auf fallende Kurse setzen.
In ihrem wöchentlichen Rohstoff-Update schreiben die Experten von JP Morgan, dass die globale Ölnachfrage insgesamt ihren steinigen Aufwärtspfad fortsetzen werde und das, obwohl die Regierungen auf der ganzen Welt mit neuen Corona-Maßnahmen liebäugeln.
Die Analysten gehen zwar im Schlussquartal von einer sich fortsetzenden Erholung des weltweiten Ölverbrauchs aus im Zuge des sich leicht anziehenden Reiseverkehrs und einer anhaltenden Stärke des industriellen und petrochemischen Sektors aus. Gleichwohl sehen sie noch immer einen Rückgang der weltweiten Nachfrage von 6,6 Millionen Barrel täglich im Vergleich zum Vorjahr und damit mehr als die jüngsten Prognosen der drei wichtigsten Energieagenturen nahelegen.
Ähnlich äußerte sich Warren Patterson, Leiter der Rohstoffstrategie bei der ING (AS:INGA) Group in Singapur: "Wir glauben zwar, dass sich die Erholung der Nachfrage verlangsamen könnte, aber wir sehen nicht, dass sie vom derzeitigen Niveau abfällt". Das Wiederaufflammen der Covid-19-Fälle und die Verschärfung der Restriktionen in einigen Regionen sei jedoch ein ständiges Problem, wobei es diesmal wahrscheinlicher sei, dass die Regierungen zielgerichteter vorgehen werden, anstatt neue, tiefgreifende nationale Lockdowns zu verhängen, sagte er.
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Libyen als Zünglein an der Ölpreis-Waage
Wenige Marktteilnehmer hatten jedoch damit gerechnet, dass der libysche Militärführer Khalifa Haftar, der einen langen Krieg mit der von der UNO anerkannten Regierung in Tripolis geführt hatte, ein Friedensabkommen ankündigt, das viel mehr libysches Öl auf den Markt bringen könnte.
Das Ausmaß und die Nachhaltigkeit der Wiederannäherung mag auf dem ersten Blick ungewiss erscheinen. Unklar ist immer noch, inwieweit die Absichtserklärung die allgemeine politische Unterstützung im westlichen Teil des Landes hat, da befürchtet wird, dass die in Tripolis ansässige Regierung einen Teil der Kontrolle über die Öleinnahmen an ihre Rivalen im Osten abtreten wird.
Berichten zufolge scheint Fayez al-Sarraj, der Chef der GNA, nicht an der umstrittenen Vereinbarung mitgewirkt zu haben, die von seinem Stellvertreter angekündigt wurde. Im Osten, selbst wenn die Wiederaufnahme der Produktion und des Exports von General Haftar durchgesetzt wird, wird die Präsenz von Söldnern auf Ölfeldern und Terminals wahrscheinlich weiterhin den Betrieb bedrohen.
"Dieses Mal fühlt es sich jedoch anders an. Zum einen bietet das Abkommen einen Aktionsplan zur Lösung des Problems an der Wurzel des Konflikts. Zum anderen hat es eine breite Unterstützung der in Libyen involvierten internationalen Mächte erhalten, darunter auch von Russland (die Vereinbarung wurde letzte Woche bei einem Treffen in Sotschi, Russland, getroffen)", erklärte JP Morgan.
Insofern werde ein Teil des zu erwarteten Nachfragewachstums in Q4 durch die überraschende Rückkehr der libyschen Rohölexporte und -produktion neutralisiert, so die Rohstoffstrategen von JP Morgan. So könnten die Exporte in den nächsten Wochen etwa 12 Millionen Barrel auf die regionalen Märkte bringen und die Produktion dürfte bis zum Jahresende auf 500.000 bis 600.000 Barrel pro Tag steigen.
"Unter der Annahme, dass die Exporte wieder gesteigert werden, sind die libyschen Volumina groß genug, dass sie sich sowohl auf das globale Gleichgewicht auswirken als auch regionale Ungleichgewichte verschärfen, je nachdem, wohin die Exporte gelenkt werden", so JP Morgan. Traditionell wurden in der Vergangenheit rund zwei Drittel der libyschen Exporte durch den derzeit überversorgten europäischen Markt absorbiert, und ein Viertel der Lieferungen wurde nach Asien gelenkt. Doch in den letzten zwei Jahren ist die Nachfrage nach libyschen Erdöl bei den asiatischen Raffinerien allmählich gestiegen.
Der potentielle Aufstieg des libyschen leichten, süßen Öls könnte die derzeitige Lage auf dem Ölmarkt noch weiter verschärfen und erneut für Volatilität sorgen, glauben die Analysten.
Im Rahmen der von JP Morgan errechneten Modelle für Angebot und Nachfrage dürften die Defizite auf auf -1,4 Millionen Barrel täglich im vierten Quartal zurückgehen, so dass nur noch begrenzter Spielraum für Nachfrageverschiebungen und andere Fehlallokationen besteht. "Zu einem solchen Zeitpunkt Öl auf den Markt zu bringen, ist unserer Meinung nach kein kluger Schachzug", hieß es in der Notiz.
JP Morgan sieht die Sorte Brent in Q4 bei durchschnittlich 41 Dollar je Barrel und die US-Sorte WTI bei 40 Dollar. Im nächsten Jahr gehen die Analysten von einem stetigen, aber langsamen Preisanstieg aus. Die Q4-Prognose für Brent liegt bei 52 Dollar und die für West Texas Intermediate bei 49 Dollar.
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Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan könnte den Ölpreis kurzfristig stützen
Preisunterstützend könnten derweil die militärischen Zusammenstöße zwischen Armenien und Aserbaidschan auf dem Gebiet von Berg-Karabach haben wirken. Zwar haben sie bislang noch nicht die Energielieferungen aus der Region beeinträchtigt könnten jedoch die Öl- und Gasexporte stören, falls der Konflikt eskalieren sollte, sagten Analysten am Montag.
Das öl- und gasreiche Aserbaidschan ist besonders anfällig für mögliche Störungen seiner Energieexporte, obwohl die Lieferungen ins Ausland nicht unmittelbar an Berg-Karabach vorbeiführen.
Aserbaidschans Hauptroute für Ölexporte ist die Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan, über die rund 80 Prozent der Ölexporte des Landes laufen und die via Georgien bis zur türkischen Mittelmeerküste führt. Sie hat eine Kapazität von 1,2 Millionen Barrel pro Tag oder mehr als 1 Prozent der weltweiten Ölproduktion.
Derzeit werden über 0,5 Millionen Barrel Öl pro Tag exportiert.
Aserbaidschan exportiert Öl auch über Russland durch die Pipeline Baku-Novorossiisk und über Georgien über die Schiene sowie über die Pipeline Baku-Supsa.
"Der Berg-Karabach-Konflikt hat die internationale Gemeinschaft teilweise wegen seiner Bedrohung der Stabilität in einer Region betroffen, die als Korridor für große Pipelines dient, die Öl und Gas zu den Weltmärkten bringen", zitierte Reuters eine Mitteilung von OilX.
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