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Euroraum unter Zinsnarkose

Veröffentlicht am 26.05.2018, 19:10
© Reuters.  Euroraum unter Zinsnarkose
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Steigende Zinsen können die konjunkturelle Scheinbesserung im Euroraum zunichtemachen. Deshalb hält die EZB auch so entschieden an ihrer – narkotisierenden – Niedrigzinspolitik fest. Aber auch eine solche Politik ist alles andere als risikolos.

Die US-amerikanischen Zinsen klettern in die Höhe – denn die US-Zentralbank (Fed) ist dabei, ihren Leitzins anzuheben. Derzeit befindet er sich in einer Bandbreite von 1,50 – 1,75 Prozent. Die Rendite der 10-jährigen US-Staatsanleihe liegt nun über der 3-Prozentmarke. Im Sog der US-Zinsen haben die Renditen in anderen Währungsräumen angezogen (Abb. 1 a). Von einer geldpolitischen Kehrtwende ist der Euroraum allerdings noch weit entfernt – und dämmert weiter unter der narkotisierenden Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Der Zinsvorteil des US-Dollar gegenüber dem Euro wächst und setzt den Euro gegenüber dem Greenback unter Abwertungsdruck (Abb. 1 b).

Die EZB rechtfertigt ihr Festhalten an der Niedrigzinspolitik mit dem Hinweis auf die niedrige Inflation der Konsumentenpreise (die im Monat April bei 1,2 Prozent lag und damit unter der 2-Prozentmarke, die die EZB ansteuert). Doch ist das der wirkliche Grund für die anhaltende Niedrigzinspolitik? Keine offizielle Presseerklärung verkündet es und niemand aus den etablierten Politiker- und Ökonomenkreisen sagt es: Doch der extrem niedrige Euro-Zins ist zu einer notwendigen Einrichtung geworden, um den Euroraum beieinander und den Euro über Wasser zu halten. Diese Einschätzung lässt sich anhand der Staatsverschuldung im Euroraum eindrücklich illustrieren.

Seit der Krise 2008/2009 ist die Staatsverschuldung im Euroraum von 64,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) auf 86,7 Prozent gestiegen – und liegt damit weit über der ursprünglich angedachten „Höchstgrenze“ von 60 Prozent des BIP (Abb. 2 a). Gleichzeitig sind die Zinszahlungen von 2,9 auf 1,9 Prozent des BIP gefallen. Der Grund: Die EZB hat die Zinsen drastisch abgesenkt. Dadurch konnten die Staaten ihre fälligen Kredite mit neuen Krediten, die mit sehr niedrigen Zinsen ausgestattet sind, refinanzieren. Zudem war es den Staaten möglich, neue Kredite zu sehr niedrigen Zinsen aufzunehmen.

ITALIEN WIRD DIE EURO-ZWANGSJACKE ZU ENG

In Italien haben die Lega und das Bündnis Fünf Sterne sich auf einige Punkte eines gemeinsamen Regierungsprogramms („Contratto per il governo del cambiamento“, übersetzt: „Pakt für eine Regierung des Wandels“) verständigt. Unter anderem will der italienische Staat künftig die Möglichkeit haben, seine Verbindlichkeiten im Inland mit Schuldscheinen (sogenannten „Mini-BOTs“) statt mit Euro zu bezahlen. Ein solches Vorhaben signalisiert zum einen, dass die neue Regierung sich ganz offensichtlich nicht verabschieden will von der chronischen Defizitfinanzierung, sondern dass sie vielmehr nach neuen „kreativen“ Wegen sucht, um sich weiter verschulden zu können. Zum anderen wird deutlich, dass Italien auf Kosten der übrigen Euro-Länder wirtschaften will: Wenn die EZB die Mini-BOTs als Pfand akzeptiert, bedeutet das nichts anderes, als dass Italien mit der EZB-Notenpresse finanziert wird. [So gesehen hätten Mini-BOTs große Ähnlichkeit mit den „Mefo-Wechseln“, die im Dritten Reich von den Nationalsozialisten ausgegeben wurden, und die von der Deutschen Reichsbank diskontiert wurden.] Ob Mini-BOTs zu einer „Parallelwährung“ aufsteigen, die die Verwendung des Euro in Italien verdrängt, wie bereits zu hören ist, ist allerdings unwahrscheinlich.

Wie drückend die Euro-Zwangsjacke für Italien geworden ist, zeigt sich zudem in einem Vorentwurf des Regierungsprogramms, in dem ein Schuldenschnitt in Höhe von 250 Mrd. Euro (insgesamt hat Italien Staatsschulden von 2.300 Mrd. Euro) gefordert wurde. Der Entwurf ist zwar vom Tisch, Wunsch und Idee werden jedoch weiterleben. Denn Italien steht nach wie vor nicht gut da. Der Euro ist zum akuten Problem geworden: Das Land kann seinen Wechselkurs nicht mehr abwerten, um wettbewerbsfähiger zu werden. Italien ächzt unter einer Staatsschuldenquote von 132 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Dabei zeigt Italiens Wirtschaft nur wenig Wachstumsdynamik: Seit Beginn der Euro-Währungsunion ist sie nur um durchschnittlich 0,5 Prozent pro Jahr gewachsen; und seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise beträgt das jährliche Wirtschaftswachstum durchschnittlich minus 0,5 Prozent pro Jahr. Die Arbeitslosigkeit der Frauen zwischen 15 und 24 Jahren beträgt etwa 36 Prozent, die der gleichaltrigen Männer etwa 32 Prozent. Die italienischen Banken haben, im Vergleich mit den übrigen Euro-Banken, die höchsten faulen Kredite in ihren Bilanzen: Im vierten Quartal 2017 waren es etwa 164 Mrd. Euro. Angesichts des EU- und Euro-skeptischen Tons der Koalition ist das Szenario nicht von der Hand zu weisen, dass sich nun wirklich dunkle Wolken über der Zukunft der Einheitswährung bilden.

Die Finanzmärkte haben darauf bereits reagiert: Die Zinsen für kurz- und langlaufende italienische Staatsanleihen haben angezogen. Allerdings weitaus weniger stark als noch zu Zeiten der akuten Finanz- und Wirtschaftskrise. Der Grund liegt auf der Hand: Die Investoren rechnen damit, dass die Europäische Zentralbank (EZB) im „Notfall“ eingreift und italienische Staatsanleihen – und bei Bedarf auch andere Euro-Staatsanleihen – kauft, um die Lage zu beruhigen. Und mit dieser Erwartungshaltung dürften die Akteure auf den Märkten auch richtig liegen – denn eine solche Reaktion der EZB wäre die logische Fortsetzung der seit 2010 eingeschlagenen „Euro-Rettungspolitik“. Die Koalition in Rom scheint sich ihrer starken Verhandlungsposition bewusst zu sein: dass sie ziemlich ungestraft den gesamten Euroraum in Geiselhaft nehmen kann. Italien kann die Rechnung für die eigene Schuldenmisswirtschaft den übrigen Euro-Teilnehmerländern aufbürden, indem sie die EZB „durch die Kraft des Faktischen“ dazu bringt, Schulden zu monetisieren. Das Anwerfen der elektronischen EZB-Notenpresse ist zweifellos ein machtvolles Instrument: Es kann den Zahlungsausfall von Staaten und Banken verhindern.

Doch der Preis dafür ist hoch: Die Kaufkraft des Euro wird entwertet und das schadet Bürgern und Unternehmen im Euroraum. Zudem führt eine EuroEntwertung zu einer – nicht parlamentarisch abgesegneten – Umverteilung von Einkommen und Vermögen im Euroraum in großem Stil, die für noch mehr Zank und Streit und Erbitterung zwischen den Ländern sorgen dürfte. Die Geschehnisse in Italien sind also schlechte Nachrichten für den Euro.

Die niedrigen Euro-Zinsen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Defizite der Euroraum-Staaten sich in den letzten Jahren verringert haben (Abb. 2 b). Zum einen war dafür die sinkende Zinslast (dank der EZB-Niedrigzinspolitik) direkt verantwortlich. Zum anderen spielte den Staaten die EZB-Niedrigzinspolitik auch noch indirekt in die Hände: Der extreme Niedrigzins im Euroraum hat in nahezu allen Euro-Ländern die Konjunktur belebt. Und die steigende Wirtschaftsleistung hat wiederum die Schulden- und Defizitquoten abgesenkt.

FOLGEN DES NIEDRIGZINSES

Lässt sich daraus schließen, dass die EZB-Niedrigzinspolitik richtig war, dass der Euroraum nun über den Berg ist? Die keynesianisch Gesinnten werden diese Frage mit Ja beantworten. Einige von ihnen werden nun sogar die Auffassung vertreten, dass sich die EZB von der Niedrigzinspolitik wieder abkehren kann (und sollte), weil ein „tragfähiger Aufschwung“ in Gang gekommen ist, der höhere Zinsen „aushält“. Doch es gibt auch eine ganz andere Sicht der Dinge. Sie lautet: Die EZB-Niedrigzinspolitik hat einen Scheinaufschwung angezettelt, der nur Bestand hat, solange die Zinsen extrem niedrig bleiben. Zinserhöhungen werden das Konjunkturgebäude zum Einsturz bringen.

Die Wahrheit liegt vermutlich (wie so oft) zwischen den beiden Sichtweisen. Es ist durchaus denkbar, dass der Konjunkturaufschwung, angetrieben durch künstlich gesenkte Zinsen, die Schuldentragfähigkeit der Volkswirtschaften etwas verbessert hat, und dass daher (leicht) steigende Zinsen nicht notwendigerweise eine neue Krise auslösen müssen. Zum anderen ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass steigende Zinsen die Volkswirtschaften schnell „überfordern“, weil der Aufschwung durch künstlich niedrige Kreditkosten in Gang gekommen ist und dass steigende Zinsen sein Ende einläuten. Abb. 4 zeigt eindrücklich, wie die Konjunktur aufgrund des negativen Realzinses angezogen hat.

Zusätzlich dazu gesellt sich ein weiteres Problem: die brisante finanzielle Lage des Euro-Bankenapparates. Nach dem geplatzten Kreditboom 2008/2009 haben die Aktienkurse der Euro-Banken stark an Wert verloren – vergleichbar mit dem Verfall der japanischen Bankaktienkurse in den 1990er Jahren. Geringe Ertrags- und Rentabilitätszahlen, hohe Bestände an faulen Krediten (sie werden offiziell auf rund 759 Mrd. Euro geschätzt, also etwa 30 Prozent des bilanzierten Bankeneigenkapitals) und wachsende Regulierungsdichte haben die Geschäftsaussichten vieler Euro-Banken stark eingetrübt. Dramatisch sind auch die Kursverluste der beiden deutschen Großbanken.

Sollten die Euro-Banken nicht mehr in der Lage oder willens sein, Kredite auf ihren Bilanzen zu halten, wird es heikel. Wenn Banken daraufhin ihre Bilanzen schrumpfen, indem sie fällige Kredite nicht mehr erneuern und keine neuen Darlehen mehr ausreichen, nimmt die bisher ausstehende Euro-Kredit- und Geldmenge ab. Es käme zu einem deflationären Effekt. Die Güterpreise würden fallen, und Schuldner gerieten in arge Bedrängnis: Ihre nominalen Schulden blieben unverändert bestehen, gleichzeitig gingen aber ihre nominalen Einnahmen zurück. Kreditausfälle und Konjunkturabschwung wären vermutlich unabwendbar.

Höhere Zinsen wären für die Euro-Banken auf der einen Seite positiv: Denn dann lässt sich wieder etwas verdienen im Kreditgeschäft. Auf der anderen Seite könnte das, nach langen Jahren des Nullzinses, die Kreditausfälle in die Höhe treiben. Das wiederum würde die Eigenkapitaldecke der Banken angreifen und – wenn sich kein neues Eigenkapital beschaffen lässt – zu einer weiteren Schrumpfung der Euro-Kredit- und Geldmenge führen. Welcher Effekt für das Bankgeschäft überwiegt, wenn die Zinsen steigen – Verbesserung der Gewinnlage oder Verschlechterung des Kreditportfolios –, lässt sich vorab nicht mit Gewissheit sagen.

Dass die EZB so entschieden an ihrer Niedrigzinspolitik festhält, liegt vermutlich daran, dass die Politik der niedrigen Zinsen als eine vergleichsweise risikoarme Strategie eingestuft wird, und weil sie auch der Mehrheit der Regierungen im Euroraum in die Hände spielt: Wenn die Kredite billig sind, brauchen sie unliebsame Reformen nicht anzugehen. Die besonders hoch verschuldeten Länder erhalten dadurch die Möglichkeit, sich auf Kosten der weniger stark verschuldeten Länder ihrer Kreditlasten zu entledigen – eine grenzüberschreitende Umverteilung, die erheblichen politischen Sprengstoff birgt.

AUFGEBLASENE VERMÖGENSPREISE

Weiterhin ist zu beachten, dass die niedrigen Zinsen die Vermögenspreise – die Preise für Aktien, Häuser und Grundstücke – in die Höhe treiben. Beispiel Aktienmarkt: Es ist zwar natürlich, wenn die Aktienkurse im Zeitablauf steigen, weil Unternehmen, wenn sie erfolgreich arbeiten, Werte schöpfen. Aus diesem Grund werden auch die Aktien der Unternehmen über die Zeit mehr wert. Allerdings spielt auch der Zins eine wichtige Rolle für die Aktienkurse. Denn sie werden durch die Abzinsung der in der Zukunft erwarteten Unternehmensgewinne bestimmt. Nimmt der Zins ab, so bewirkt das zwei Dinge:

Erstens steigt der Barwert der abgezinsten Unternehmensgewinne, wenn der Zins fällt, und das wiederum treibt die Aktienkurse in die Höhe. Zweitens: Wenn der Zins sinkt, nehmen auch die Kreditkosten ab, die Unternehmen auf ihre Schulden zu zahlen haben. Das wiederum erhöht die Gewinne – und wirkt sich kurserhöhend auf die Aktie aus. Zusammen betrachtet wäre also zu erwarten, dass die Aktienkurse in die Höhe klettern, wenn der Marktzins fällt. Und genau das lässt sich auch beobachten, beispielsweise im Euroraum und den USA in der Zeit von 1995 bis heute.

Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass steigende Zinsen mit erheblichen „Anpassungsproblemen“ verbunden wären – die politisch alles andere als willkommen sind. Eine erneute Konjunktur- oder Finanzkrise würde vor allem den Euroraum in eine schwierige Lage bringen, ihn vielleicht sogar vor eine Zerreißprobe stellen. Der politische Spielraum, noch einmal „Rettungspakete“ im großen Stil zu schnüren, ist in vielen Euro-Ländern mittlerweile stark eingeschränkt – und die EZB wäre stärker denn je gefordert, Zahlungsausfälle von Staaten und Banken mit dem Anwerfen der elektronischen Notenpresse abzuwehren.

GOLD

Vor diesem Hintergrund ist aufschlussreich, sich die Wertentwicklung des Goldes seit Einführung des Euro in Erinnerung zu bringen. Der steigende Goldpreis (in Euro gerechnet) von 1999 bis heute ging mit deutlich fallenden Zinsen, insbesondere fallenden Euro-Realzinsen einher, die seit Anfang 2010 im negativen Bereich liegen. Damit soll nicht ausgesagt werden, dass nur der Zinsniedergang für den steigenden Goldpreis verantwortlich gewesen ist. Natürlich waren auch andere Faktoren am Werk (wie zum Beispiel der „Rohstoffpreis-Boom“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts und die weltweit steigende Liquidität).

Doch der Zins hat eine herausragende Rolle gespielt: Zinsveränderungen beeinflussen im Grunde alle Preise in der Volkswirtschaft. Vor allem aber künstlich abgesenkte Zinsen, für die die Zentralbanken sorgen, befördern einen Scheinaufschwung, der zu Wirtschaftsstörungen und Krisen führt – und darauf reagieren die Zentralbanken dann regelmäßig mit noch weiteren Zinssenkungen. So gesehen ist es nicht überraschend, dass der trendmäßige Rückgang der Zinsen auch mit einer Steigerung des Goldpreises einhergegangen ist.

Wer Anfang 1999 10.000 Euro unverzinslich gehalten hat, der hat bis heute einen Kaufkraftverlust von gut 28 Prozent erlitten – gemessen an der Preisentwicklung der Konsumgüter. Derjenige, der banküblich verzinsliche Euroguthaben gehalten hat, konnte nach Abzug der Konsumgüterpreisinflation einen Wertzuwachs von 3,5 Prozent erzielen: Er hat aus 10.000 Euro 10.350 Euro gemacht. Wer auf Gold gesetzt hat, der konnte sich über einen Wertzuwachs nach Inflation von 217 Prozent freuen: Aus 10.000 Euro wurden 31.700 Euro. Gold hat sich also für Euro-Anleger als das „bessere Geld“ erwiesen.

Der Blick auf die Wertentwicklung des Goldes in den letzten knapp 20 Jahren liefert zwar keine verlässliche Indikation für die Zukunft. Aber sie lenkt die Aufmerksamkeit auf wichtige Faktoren, die den Goldpreis (mit-)beeinflussen. Und dazu gehört insbesondere auch der Zins. Die EZB verabreicht mit ihrer Nullzinspolitik dem Euroraum eine Zinsnarkose, die das Problembewusstsein für die bereits aufgelaufenen Ungleichgewichte ausschaltet. Zudem verursachen die künstlich niedrigen Zinsen zusätzliche finanzielle Ungleichgewichte, die eine Abkehr von der Zinsnarkose immer schwieriger machen, je länger sie andauert. Vor diesem Hintergrund bleibt Gold attraktiv für langfristig orientierte Investoren, die liquide Mittel halten wollen, und die gleichzeitig auch eine „Versicherung mit Wertsteigerungspotential“ suchen. Beides kann Gold leisten, vor allem zum aktuellen Preis.

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Ein Beitrag von Dr. Thorsten Polleit.

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