Investing.com – Ein gutes Jahrzehnt dauerte die Ära der Niedrigzinsen, während die Zentralbanken weltweit versuchten ihrem Mandat der Preisstabilität gerecht zu werden. Als erfüllt sahen sie dieses Ziel bei einer Inflation von 2 Prozent an, aber in vielen Regionen der Welt lagen die jährlichen Preissteigerungen weit unter diesem Niveau.
Das führte letztlich dazu, dass neben der Einführungen von negativen Einlagenzinsen auch noch zusätzliche Liquidität mittels QE in den Markt gepumpt wurde. Zahlreiche Länder nutzten die gute Gelegenheit, um mit neuen, billigen Schulden Investitionen in Infrastrukturprojekt zu tätigen.
Die Aktienkurse erreichten kontinuierlich neue Hochs und viele der Marktteilnehmer gingen davon aus, dass dieser Zustand das neue Normal ist. Bestätigt wurden sie in ihren Annahmen von Analysten, die recht detailreich erklärten, warum es nie wieder hohe Zinsen geben wird.
Doch während die Geldmenge und die Schulden immer weiter stiegen, begann auch die Inflation zu reagieren. Anfänglich verkauften die Zentralbanken das dem Markt als einen Erfolg ihrer langjährigen harten Arbeit. Aber mit den aufkommenden Krisen wie Covid-19, dem Ukraine-Krieg und den neuen geopolitischen Spannungen zwischen China und den USA, beschleunigte sich die Teuerungsrate kontinuierlich.
Die schnelle Anhebung der Zinsen wurde als probates Mittel angesehen, um dieses Problem schnell aus der Welt zu schaffen. Was die Zentralbanken und ein Großteil der Analysten jedoch ignorieren, ist der Umstand, dass die Welt in einem strukturellen Wandel ist, wie der Rabobank Global Strategist Michael Every in seinem neuesten Artikel erläutert.
In diesem kommt er zu dem Schluss, dass "nahezu alle verfügbaren Marktanalysen" falsch sind. Denn keiner traut sich aus seiner Komfortzone heraus und versucht auch nur ansatzweise die vor uns liegenden geopolitischen Herausforderungen einzubeziehen.
Würde man sich darauf einlassen, käme man automatisch zu dem Ergebnis, dass die Inflation über einen viel längeren Zeitraum viel höher bleiben wird. Damit einher geht zwangsläufig, dass die Zinsen weder schnell sinken, noch niedrig bleiben werden. Doch genau das wird den Marktteilnehmern suggeriert. Was schlicht und ergreifend daran liegt, dass das, was aktuell vor sich geht, von einer immensen Komplexität ist.
Die Zentralbanken versuchen die Wirtschaft und damit die Arbeitsmärkte abzukühlen, was letztlich die Inflation auf 2 Prozent senken soll. Doch gleichzeitig steigen weltweit die Rüstungsausgaben, also auch der Bedarf nach Rohstoffen und Arbeitskräften.
Im Wall Street Journal heißt es:
"Waffenhersteller können nicht genug Arbeiter einstellen, da der Ukraine-Krieg die Nachfrage antreibt: Steigende geopolitische Spannungen haben die Militärausgaben in die Höhe getrieben, was zu einem branchenweiten Einstellungswettlauf geführt hat".
Der in nahezu jedem Lebensmittel enthaltene billige Rohstoff Zucker ist seit Jahresbeginn um 40 Prozent gestiegen, Olivenöl folgt diesem Beispiel und der Handel von Getreide über das Schwarze Meer steht auf Messers Schneide.
Die EZB propagiert ihre Zinserhöhungen erst einzustellen, wenn die Lohninflation unter Kontrolle ist. Gleichzeitig fordern Gewerkschaften Lohnerhöhungen im zweistelligen Prozentbereich, wie bei der für den Zucker- und Ölivenölhandel zuständigen Organisation in den Niederlanden, wo es um 14 Prozent höhere Löhne geht.
Die Produktion von Halbleitern und Batterien soll von Asien in die Länder verlagert werden, wo die Endprodukte letztlich zum Einsatz kommen. Ein angespannter Arbeitsmarkt und höhere Preise werden die Folge sein.
Der chinesische Botschafter in Frankreich erklärte, dass die ehemaligen Sowjetstaaten keinen Rechtsstatus haben. Die EU spricht davon, dass man in der Straße von Taiwan Kriegsschiffe als Patrouille und zur Verteidigung Taiwans gegen China einsetzen will.
In der Financial Times ist in einem Artikel mit der Überschrift "How to stop a war between America and China" davon die Rede, dass ein offener Konflikt zwischen den USA und China nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist.
Noch halten die Zentralbanken an ihren Inflationszielen fest, aber in Anbetracht der sich zuspitzenden geopolitischen Situation dürfte sich das bald ändern. Die EZB Präsidentin Christine Lagarde bereitete in der vergangenen Woche den Weg. Sie erklärte, dass sowohl die Rüstungs- als auch Lieferkettenausgaben zumindest teilweise durch das Drucken neuen Geldes finanziert werden müssen.
Polen erhöhte seine Verteidigungsausgaben auf 4 Prozent des BIP, ohne das nötige Kapital zu besitzen. In den USA wird darüber nachgedacht, den Verteidigungshaushalt zu verdoppeln, während man wieder einmal mit der Schuldenobergrenze zu kämpfen hat.
Bloomberg spricht bereits von einem Kalten Krieg und dessen Auswirkungen auf die Zentralbanken:
"Der Kampf gegen die steigenden Preise ist kaum mehr als ein Jahr alt, und die Zentralbanken müssen sich auf die nächste große Prüfung vorbereiten: Sie müssen ihren Ländern in einer Welt dienen, die von einem langwierigen Wettbewerb zwischen den USA und China geprägt ist. Die politischen Entscheidungsträger werden widerwillige Krieger des Kalten Krieges sein - sie fühlen sich wohler dabei, Inflationsziele anzustreben und an den Leitlinien für die Zinssätze herumzubasteln, als sich gegen strategische Gegner zu wehren. Leider können sie sich den Luxus nicht leisten, dies auszusitzen."
All das zeigt, dass wir in einer neuen Welt leben, einer Welt, die sich so schnell geändert hat, dass die Finanzmärkte nicht Schritt halten konnten. Michael Every schreibt:
"Damit sind alle Wirtschafts- und Marktprognosen hinfällig, es sei denn: (1) Sie ignorieren, was aktuell geschieht; oder (2) Sie glauben, dass sich die geopolitischen Probleme einfach in Luft auflösen".
Von Marco Oehrl