💙 🔷 Q3 ohne Big Tech-Power? Diese Blue-Chip-Schnäppchen haben's drauf!Gratis entdecken

FEATURE-"Lass mich zu Hause sterben" - Italiens Gesundheitssystem in der Virus-Krise

Veröffentlicht am 17.03.2020, 14:27
© Reuters.

* Wenige Intensiv-Betten stellen Ärzte vor schwere Entscheidungen

* Arzt - Müssen bei Patienten-Auswahl jetzt strenger sein

* Auch Besuchsverbot trifft Angehörige und Patienten hart

- von Emilio Parodi und Silvia Aloisi und Pamela Barbaglia

Mailand, 17. Mrz (Reuters) - Im Kampf gegen den Tod gibt es jeden Tag um 13 Uhr eine Pause. Zu dieser Zeit telefonieren Ärzte auf der Intensivstation der italienischen Poliklinik San Donato mit den Angehörigen der 25 schwerkranken Coronavirus-Patienten auf der Station, um diese auf den neusten Stand zu bringen. Vor dem Ausbruch der Epidemie war die Mittagszeit für Besuche in diesem Mailänder Krankenhaus vorgesehen. Aber nun sind sie nicht mehr erlaubt und kaum jemand in Italien verlässt noch seine Wohnung. Kein Land in Europa ist stärker von dem Virus betroffen: Mehr als 2100 Menschen sind hier bereits daran gestorben, knapp 28.000 infiziert. Die Vorschriften zur Eindämmung der Epidemie sind rigoros: Ganz Italien wurde jüngst für zwei Wochen unter Quarantäne gestellt, Schulen, Büros und Geschäfte wurden geschlossen. Doch steigt die Zahl der Erkrankten und Toten weiter. Ärzte sprechen von der größten medizinischen Krise seit dem zweiten Weltkrieg.

Wenn die Ärzte bei den Angehörigen ihrer Patienten anrufen, versuchen sie, ihnen keine falschen Hoffnungen zu machen. Sie wissen, dass wohl jeder zweite Patient auf der Intensivstation an dem Virus sterben wird. Der Bedarf an Plätzen dort ist groß, insbesondere wegen der Atemprobleme, die die Krankheit mit sich bringen kann. Jedes Mal, wenn ein Bett frei wird, konsultieren zwei Anästhesisten einen Spezialisten für Wiederbelebung und einen Internisten, um zu entscheiden, wer nun dorthin kommt. Alter und Vorerkrankungen spielen dabei eine Rolle, ebenso wie das soziale Umfeld. "Wir müssen berücksichtigen, ob ältere Patienten Familien haben, die sich nach Verlassen der Intensivstation um sie kümmern können,", sagt Marco Resta, stellvertretender Leiter der Intensivstation von San Donato. Selbst wenn es keine Chance gebe, "muss man einem Patienten ins Gesicht schauen und sagen: Alles ist gut. Und diese Lüge zerstört dich."

ÄRZTE IM DILEMMA

Die medizinische Krise zwingt Ärzte, Patienten und Familien zu Entscheidungen, die Resta, wie er sagt, selbst in Kriegszeiten nicht erlebt hat. Der Mediziner war Militärarzt während des Kosovo-Krieges, wo er im Luftrettungsteam diente und Patienten von Albanien nach Italien flog. Immer wenn ein neuer Patient mit Coronavirus in seinen Krankenhaus aufgenommen wird, schreiben die Mitarbeiter eine E-Mail an die Angehörigen, um ihnen zu versichern, dass dieser "wie ein Familienmitglied" behandelt wird. Die Klinik versucht zudem, bei dem Anruf um 13.00 Uhr Videoschalten zwischen Patienten und Angehörigen zu ermöglichen. Oft ist aber ein Arzt die letzte Person, die einen sterbenden Covid-19-Patienten sieht - und nicht ein Familienmitglied.

Die Epidemie, die zuerst die nördlichen Regionen der Lombardei und Venetiens traf, setzt die Intensivstationen der dortigen Krankenhäuser einer enormen Belastung aus. Binnen drei Wochen benötigten 1135 Menschen in der Lombardei einen Intensiv-Platz, aber es gibt es laut Giacomo Grasselli - Leiter der Intensivstation der von San Donato getrennten Mailänder Poliklinik - nur 800 solcher Betten.

Angesichts der hohen Fallzahlen müssen die Ärzte häufiger und schneller urteilen, wer höhere Überlebenschancen hat. Eine Entscheidung, die Ärzte vor ein Dilemma stellt - besonders in einem katholischen Land wie Italien, in dem Sterbehilfe nicht erlaubt ist, und das die älteste Bevölkerung in Europa hat: fast jede vierte Person ist 65 Jahre oder älter. "Wir sind an solch drastische Entscheidungen nicht gewöhnt", sagt Resta, ein 48-jähriger Anästhesist.

"SIE SAGTEN, ES SEI SINNLOS"

Alfredo Visioli war einer dieser Patienten. Als bei ihm das Virus diagnostiziert wurde, lebte der 83-Jährige aus Cremona ein aktives Leben zu Hause mit seinem deutschen Schäferhund Holaf. Er kümmerte sich um seine 79-jährige Frau, die vor zwei Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte, berichtet seine Enkelin Marta Manfredi. Zunächst hatte er nur zeitweise Fieber, aber zwei Wochen nach der Diagnose Covid-19 entwickelte er eine Lungenfibrose, die das Atmen immer schwieriger machte. Die Ärzte im Krankenhaus von Cremona, einer Stadt mit 73.000 Einwohnern in der Lombardei, mussten sich entscheiden, ob sie ihm einen Schlauch in die Luftröhre einführen sollten, um ihm das Atmen zu erleichtern. "Sie sagten, es sei sinnlos", sagt Manfredi. Sie hätte gern kurz vor seinem Tod die Hand ihres Großvaters gehalten. Nun sorgt Manfredi sich um ihre Großmutter Ileana, die sich ebenfalls angesteckt hat und im Krankenhaus ist. Sie weiß noch nicht, dass ihr Mann Alfredo tot ist.

Grasselli, der sämtliche staatlichen Intensivstationen in der Lombardei koordiniert, geht davon aus, dass bisher alle Patienten mit einer begründeten Chance, sich zu erholen und mit einer akzeptablen Qualität weiter zu leben, behandelt wurden. Aber er betont, dass dieses Konzept unter Druck steht. "Vorher hätten wir bei einigen Leuten gesagt: Lass uns ihnen für einige Tage eine Chance geben. Jetzt müssen wir da strenger sein."

Stefano Bollani möchte einfach nur in die Arme seiner Frau. Der 55-Jährige liegt in der Klinik San Donato, wo er nach einer Ansteckung mit dem Virus wegen Lungenentzündung behandelt wird. Seine Frau Tiziana Salvi hat er seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Damals hat sie ihn vor dem Krankenhaus abgesetzt. "Bring mich weg von hier. Lass mich zu Hause sterben", schreibt er ihr nun. "Ich will dich noch einmal sehen." (Geschrieben von Patricia Weiß, redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Redaktionsleitung unter den Telefonnummern 069-7565 1232 oder 030-2888 5168.)

Aktuelle Kommentare

Installieren Sie unsere App
Risikohinweis: Beim Handel mit Finanzinstrumenten und/oder Kryptowährungen bestehen erhebliche Risiken, die zum vollständigen oder teilweisen Verlust Ihres investierten Kapitals führen können. Die Kurse von Kryptowährungen unterliegen extremen Schwankungen und können durch externe Einflüsse wie finanzielle, regulatorische oder politische Ereignisse beeinflusst werden. Durch den Einsatz von Margin-Trading wird das finanzielle Risiko erhöht.
Vor Beginn des Handels mit Finanzinstrumenten und/oder Kryptowährungen ist es wichtig, die damit verbundenen Risiken vollständig zu verstehen. Es wird empfohlen, sich gegebenenfalls von einer unabhängigen und sachkundigen Person oder Institution beraten zu lassen.
Fusion Media weist darauf hin, dass die auf dieser Website bereitgestellten Kurse und Daten möglicherweise nicht in Echtzeit oder vollständig genau sind. Diese Informationen werden nicht unbedingt von Börsen, sondern von Market Makern zur Verfügung gestellt, was bedeutet, dass sie indikativ und nicht für Handelszwecke geeignet sein können. Fusion Media und andere Datenanbieter übernehmen daher keine Verantwortung für Handelsverluste, die durch die Verwendung dieser Daten entstehen können.
Die Nutzung, Speicherung, Vervielfältigung, Anzeige, Änderung, Übertragung oder Verbreitung der auf dieser Website enthaltenen Daten ohne vorherige schriftliche Zustimmung von Fusion Media und/oder des Datenproviders ist untersagt. Alle Rechte am geistigen Eigentum liegen bei den Anbietern und/oder der Börse, die die Daten auf dieser Website bereitstellen.
Fusion Media kann von Werbetreibenden auf der Website aufgrund Ihrer Interaktion mit Anzeigen oder Werbetreibenden vergütet werden.
Im Falle von Auslegungsunterschieden zwischen der englischen und der deutschen Version dieser Vereinbarung ist die englische Version maßgeblich.
© 2007-2024 - Fusion Media Limited. Alle Rechte vorbehalten.