Es gibt eine alte Redensart, dass Aktien eine "Sorgenmauer" hochklettern. Das grundlegende, wenn auch ungenaue, Argument dabei lautet, dass Aktienkurse so lange steigen können, wie es Skeptiker am Markt gibt. Schließlich können diese Skeptiker zu neuen Käufern werden, was dann den Treibstoff für eine fortgesetzte Rallye liefert.
Wenn alle optimistisch sind, muss man sich als Anleger Sorgen machen. Denn: an diesem Punkt ist einfach niemand mehr da, der noch kaufen könnte.
2022 stürzten die Kurse einer "Sorgenmauer" hinunter. Bereits zu Jahresbeginn gab es ganz offensichtliche Gründe für Pessimismus.
Im Gefolge des Booms bei SPACs, Krypto-Minern, Elektroautobauern und anderen spekulativen Branchen spielten die Aktienbewertungen im Jahr 2021 völlig verrückt. Gleich zu Jahresbeginn schlug die US-Notenbank einen aggressiven Ton an, auch wenn zugegebenermaßen nur wenige Investoren ahnten, dass sie ihren Leitzins sieben Mal auf einmal anheben würde. Folglich nahmen die Makrorisiken zu, während die Inflation in die Höhe schoss und sich ein potenzieller Kater durch die auslaufenden Stützungsmaßnahmen aus dem Jahr 2021 abzeichnete.
Gegen eine allzu steile Talfahrt an den Aktienmärkten sprach allerdings, dass die Marktteilnehmer die Lage bereits recht pessimistisch einschätzten. Die Gründe für einen drastischen Einbruch der US-Aktien lagen dagegen auf der Hand - vielleicht sogar ein wenig zu offensichtlich.
Mit Blick auf das Jahr 2023 ist die Bären-These nicht mehr ganz so überzeugend, wie sie es noch vor 11 Monaten war. Dennoch sollte man das potenzielle Risiko nicht aus den Augen verlieren. 2023 sollte ein besseres Börsenjahr werden als 2022, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass es ein gutes Börsenjahr wird.
Was einmal teuer war, muss nicht unbedingt im Wert steigen
Einer der größten Fehler, den Investoren im Jahr 2022 gemacht haben, war der Kauf von Aktien, die "billig" erschienen, nur weil sie stark gefallen waren. Im Mai hatten wir dieses Risiko anhand der Aktie von Coinbase Global (NASDAQ:COIN) bereits besprochen.
Dieses Risiko, auch als Ankereffekt bekannt, scheint sich zu verwirklichen, wenn man den Markt als Ganzes bis Ende 2022 betrachtet. Die Aktien sind stark gefallen - billig sind sie aber nicht.
Der S&P 500 wird derzeit mit dem 17-fachen der erwarteten Gewinne gehandelt. Das ist zwar ein angemessener, aber kaum attraktiver Multiplikator, insbesondere in Anbetracht der zahlreichen Risiken für die Unternehmensgewinne im Jahr 2023. In der Tat sind die Schätzungen für das kommende Jahr schon seit einiger Zeit rückläufig.
Gewinnspannen der Unternehmen
Dabei geht es nicht nur um kurzfristige Bedrohungen wie höhere Leitzinsen oder eine Rezession. Langfristig gesehen sind diese Faktoren nicht so wichtig. Die große Sorge besteht vielmehr darin, dass die Gewinne von Unternehmen nicht etwa aufgrund einer leichten Rezession zurückgehen, sondern dass sie zurückgehen, weil sie zur Normalität zurückkehren.
Die Gewinnspannen der Unternehmen befinden sich auf dem höchsten Stand seit 70 Jahren. Selbst in einem hochinflationären Umfeld waren US-Unternehmen in der Lage, den Großteil ihrer gestiegenen Kosten an die Endkunden weiterzugeben. Zumindest bis jetzt waren die Verbraucher größtenteils bereit, diese Preissteigerungen hinzunehmen und weiter Geld auszugeben.
Irgendwann wird sich das ändern. Und wenn der Markt normalere Margen einkalkuliert, kann das allein schon eine weitere Abwärtsbewegung auslösen. Unter der Annahme, dass die Gewinnspannen wieder das Niveau von vor der Pandemie erreichen, würde der S&P 500 zum 20-fachen der erwarteten Gewinne gehandelt werden.
Zu viele Risiken
Das ist ein Multiple, das auf einem relativ reibungslosen Marktverlauf und einem mehrjährigen Gewinnwachstum gründet. Weder das eine noch das andere ist garantiert oder auch nur wahrscheinlich.
Multinationale US-Konzerne müssen sich mit einem deutlich stärkeren US-Dollar auseinandersetzen. Die schlimmsten Auswirkungen auf diese Unternehmen dürften vorüber sein, aber inländische Unternehmen, die von der Dollar-Stärke profitiert haben, verlieren wieder etwas von ihrem Wettbewerbsvorteil. Die Probleme in der Lieferkette lassen weltweit nach, sind aber noch lange nicht gelöst. Auf den wichtigsten internationalen Märkten zeichnet sich eine Rezession ab, und irgendwann wird wohl auch der amerikanische Verbraucher Schwäche zeigen.
Es ist einfach schwierig, das makroökonomische Umfeld aus einer neuen Perspektive zu betrachten und US-Aktien als attraktiv zu bezeichnen. Der Markt ist billiger, ja - aber nicht wirklich billig, wenn man ihn an irgendeinem angemessenen fundamentalen Maßstab bewertet. Es gibt viele Risiken. Auch die Stimmung scheint nicht auf eine Talsohle hinzudeuten: Wir haben immer noch nicht die typische "Kapitulation" erlebt, die einen echten, mehrjährigen Boden markiert, von dem aus sich die Aktienmärkte nachhaltig erholen können.
Alles in allem gibt es immer noch zu viele Risiken für die Aktienmärkte. Das bedeutet nicht, dass die Anleger passiv abwarten müssen, und schon gar nicht, dass sie auf die wichtigsten Indizes setzen sollten.
Es bedeutet einfach, dass 2023 ein schwieriges Börsenjahr sein wird, das solide Analysen, agiles Handeln und Geduld erfordert. Es ist unwahrscheinlich, dass der breite Markt den Anlegern die Arbeit abnehmen wird.
*Frohe Feiertage!*
Offenlegung: Vince Martin ist derzeit in keinen der hier erwähnten Wertpapieren investiert.