Investing.com – Seit Jahrzehnten wird Deutschland nachgesagt, dass das Land auf einem hohen Niveau jammert. Und an dieser Einschätzung scheint etwas dran zu sein. Einem Deutschen kann man es nur selten recht machen, er findet immer ein Haar in der Suppe.
Dass die Deutschen eher zögerlich und auf Sicherheit bedacht sind, zeigt sich nicht nur in der Politik und der Bürokratie. Im Ausland wurde gar der Begriff "German Angst" geprägt. Selbst im Alltag erweist sich diese Einschätzung als zutreffend, denn genau aus diesem Grund zählt Deutschland zu den weltweit größten Versicherungsmärkten. Wir wollen uns gegen das noch so kleinste Risiko absichern und sind bereit, dafür tief in die Tasche zu greifen.
Aber wehe dem, es geschieht etwas, weshalb man sich ungerecht behandelt fühlt, dann geht das Gejammer los. Am besten können dies die Branchenverbände, welche ihren Zugang zu Steuergeldern verbessern und/oder die politische Unterstützung sichern wollen.
Der Bauernverband und die Bahn sind die jüngsten Beispiele.
Der Agrarwirtschaft ist es ein Dorn im Auge, dass die Regierung die Subventionen für Agrardiesel streichen und den Fuhrpark der Landwirte regulär besteuern will – so weit, so gut. Aus Sicht des Bauernpräsidenten jedoch eine absolute Frechheit, und so wurden in den vergangenen Tagen erste Straßen und Autobahnen mit Traktoren blockiert.
Sollte die Entscheidung der Politik nicht vollständig zurückgezogen werden, wird das Land am 8. Januar 2024 eine Blockade erleben wie noch nie zuvor, so die unmissverständliche Ansage.
Im Kern der Sache geht es um den Wegfall klimaschädlicher Subventionen, durch die den Bauern, nach eigener Einschätzung, unzumutbare Kosten in Höhe von 1 Milliarde Euro auferlegt werden. Eine Menge Geld, will man meinen, doch wie so oft ist alles eine Frage der Relation.
Gemessen an dem Jahresumsatz der Branche, von mehr als 400 Milliarden Euro, hört sich das schon nicht mehr ganz so dramatisch an.
Schaut man sich dann die Entwicklung der Gewinne landwirtschaftlicher Betriebe in den vergangenen Jahren an, dann sollten die Proteste eigentlich auf Unverständnis stoßen, denn die Bauern sind die großen Nutznießer der Inflation. Niemandem dürfte entgangen sein, dass vor allem die Lebensmittelpreise ordentlich angezogen haben und das nicht nur, weil die höheren Kosten weitergegeben wurden.
Die Landwirtschaft erwirtschaftete im Jahr 2021/22 um bis zu 60 Prozent höhere Gewinne. Wie hoch fiel ihre letzte Lohnerhöhung aus?
Als fragwürdig ist vor diesem Hintergrund auch die zurückliegende Forderung nach umfangreichen Beihilfen vom Bund zu betrachten, bei der man sich auf die gestiegenen Energie- und Düngepreise berief.
Dr. Olaf Zinke von Agrarheute schrieb am 6. November:
"Der Durchschnittsgewinn lag bereits im vorigen Wirtschaftsjahr 2021/22 mit 73.708 Euro um gut 10 % über dem Fünfjahresdurchschnitt [...] Nun fallen die Gewinne über alle Betriebsformen mit durchschnittlich 132.328 Euro doppelt so hoch aus wie der Fünfjahresdurchschnitt."
Und dennoch soll ein ganzes Land lahmgelegt werden, um in der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, dass die gesamte Branche kurz vor dem Kollaps steht und uns allen der sichere Hungertod droht.
Ein ähnliches Spielchen treibt die Deutsche Bahn, welche bei ihren Kunden wegen der chronischen Verspätungen oder gar dem Totalausfall von Zügen keinen guten Ruf hat. Öffentlichkeitswirksam jammert der Vorstand über die Forderungen der Gewerkschaft der Lokführer (GdL) nach besseren Arbeitsbedingungen und mehr Lohn.
Es wurde gar behauptet, dass die Gewerkschaft nicht bereit sei zu verhandeln und jedes Maß der Mitte verloren habe, wie der DB-Vorstand Martin Seiler sagte.
Richtig ist, dass die GdL eine Verhandlung absagte und es vorzog, in den Streik zu gehen. Aber nicht um die Kunden in "Geiselhaft" zu nehmen, wie aus der Bahn-Chefetage zu hören war, sondern weil der Bahnvorstand bereits im Vorfeld kund tat, dass man von der eigenen Position nicht abrücken werde.
Wer kann es den Lokführern unter diesen Umständen verdenken, dass sie einen "Verhandlungstermin" ausschlugen, bei dem das Ergebnis ohnehin bekannt war.
Der jammernde DB-Vorstand kennt derartige Probleme natürlich nicht, denn Verbesserungen an den eigenen Entlohnungen werden schnell durchgewunken, wobei die Ausgangslage ohnehin schon rosig ist.
Herr Seiler, welcher den Lokführern nachsagt, jedes Maß verloren zu haben, bezieht ein Grundgehalt von 659.000 Euro, was für einen passablen Lebensunterhalt selbstverständlich nicht ansatzweise ausreicht. Also kommen noch Boni-Zahlungen in Höhe von 736.000 Euro hinzu.
Ab 2024 sollen die Grundgehälter zulasten der Bonuszahlungen des Vorstands steigen, nur für den Fall, dass die immer weiter verwässerten Ziele nicht erreicht werden.
Und dann sind da noch Teile der Politik, die darüber jammern, dass es den Schwächsten in der Gesellschaft viel zu gut geht.
Die monatlichen Zahlungen zur Gewährleistung des Existenzminimums werden mit dem Inflationsausgleich zum 1. Januar 2024 angeblich so stark steigen, dass der gesamte Niedriglohnsektor die Arbeit niederlegt, um dann in Saus und Braus auf Kosten des Staates zu leben.
Die Darstellung, dass Menschen, die einer Arbeit nachgehen, wirtschaftlich schlechter gestellt sind als ein Empfänger von Bürgergeld, ist nachweislich falsch. Richtig ist, dass die inflationsbereinigte Anhebung zur Sicherung des Existenzminimums den Abstand zu den Einkünften aus dem Niedriglohnsektor verringert, weil die Anhebung des Mindestlohns aufgrund der hervorragenden Lobbyarbeit der Wirtschaft niedriger ausfällt als die Inflation.
Aber anstatt sich darum zu kümmern, dass die arbeitenden Menschen mehr verdienen, was auch zu mehr Einnahmen bei Steuer- und Sozialkassen führen würde, wird darüber diskutiert, die Ärmsten noch tiefer ins Elend abrutschen zu lassen.
Neben der CDU bläst auch die AFD in dieses Horn, die sich gerne als Partei des kleinen Mannes gibt und dabei von gesundem Menschenverstand spricht.
Schaut man sich mit gesundem Menschenverstand die Steuerprogramme zur Bundestagswahl 2021 an, zeigt sich jedoch ein ganz anderes Bild.
Der kleine Mann mit einem Jahreseinkommen bis 40.000 Euro spielt bei der AFD überhaupt keine Rolle und muss weiterhin mit dem zurechtkommen, was er hat. Die Spitzenverdiener mit mehr als 100.000 Euro Einkommen hätten mit der AFD allerdings rosige Zeiten erleben dürfen, denn das verfügbare Einkommen wäre aufgrund der Steuerpläne um bis zu 8 % gestiegen. Selbst die FDP hätte laut ihres Programms die Menschen mit niedrigem Einkommen entlastet, was tief blicken lässt.
Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die AFD am 8. Januar 2024 gemeinsam mit den Landwirten auf die Straße geht. Sie verbündet sich mit der Agrarindustrie, die von ihren Steuerplänen am meisten profitiert, und nutzt diese Plattform, um ihren Ruf nach Neuwahlen zu verbreiten.
Es sind nicht die reinen familiengeführten Kleinstbetriebe, welche das große Jammern angefangen haben; diese sollten im Rahmen einer gesetzlichen Anpassung von den Plänen der Regierung sogar ausgenommen werden. Es ist die Agrarindustrie, welche die Bodenpreise für Ackerflächen dermaßen in die Höhe treibt, bis Kleinbauern aufgeben. Deshalb schrumpft jedoch die landwirtschaftlich genutzte Fläche nicht, wie gerne suggeriert wird, wenn die Bauern-Lobby davon spricht, dass im vergangenen Jahr Tausende landwirtschaftliche Betriebe aufgegeben haben.
Deutschland mag kein Exportweltmeister mehr sein, aber beim Jammern ist das Land unangefochten auf Platz 1. Doch Jammern bedeutet nicht zwangsläufig, dass es einem wirklich schlecht geht und schon gar nicht, dass man die Wahrheit spricht.
Viele Menschen, die wirklich einen Grund zum Jammern hätten, tun dies nicht, sie haben sich mit ihrem Leben arrangiert. Doch ein großer Teil der Menschen, die lautstark jammern, ist bloß darauf aus, die Emotionen anderer Menschen zu nutzen, um die eigenen Interessen durchzusetzen.