Die Wirtschaftsexperten müssen sich derzeit mit einer ganzen Reihe von widersprüchlichen Datenpunkten auseinandersetzen. Das gibt jedem von ihnen die Möglichkeit, zumindest teilweise Recht zu haben - die Inflation steigt, hat aber vielleicht ihren Höhepunkt erreicht, die Zinserhöhungen werden die Nachfrage dämpfen, aber die Realeinkommen schrumpfen bereits, und so weiter.
Aber unterm Strich ist das US-Wirtschaftswachstum im ersten Quartal um 1,4 % gesunken, und der Inflationsindex für die privaten Konsumausgaben ist im März im Jahresvergleich um 6,6 % gestiegen.
Die BIP-Zahlen könnten nach oben revidiert werden, und die PCE-Inflationsdaten umfassen die volatilen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie, die von den Notenbankern lieber ignoriert werden; (die PCE-Kernrate stieg um 5,2 %. Sie schließt die Preise für Lebensmittel und Energie aus). Aber auf den ersten Blick deuten diese beiden Datenpunkte auf Stagflation hin - geringes oder negatives Wachstum in Kombination mit hoher Inflation.
Da lässt sich nichts schönreden, egal wie viele Doppeldeutigkeiten man in eine Fundamentalanalyse einbauen will (und Finanzanalysten sind mitunter wirklich gut in "Doppeldeutigkeiten").
Jetzt sagen dieselben Bankökonomen, die für das erste Quartal ein Wachstum von 1,1 % erwartet hatten, dass man sich keine Sorgen machen müsse, weil die zugrunde liegende Nachfrage stark bleibe und das zweite Quartal einen Aufschwung bringen werde. So schrieben die Analysten der niederländischen Bank ING (AS:INGA) letzte Woche:
"Mit Blick auf das 2. Quartal sind wir zuversichtlich, dass die Wachstumszahlen besser ausfallen werden, obwohl die Finanz- und Geldpolitik weniger unterstützend wirkt. Während die Inflation die Kaufkraft beeinträchtigt, steigen die nominalen Einkommen stark an und es gibt ordentliche Beschäftigungszuwächse, die in Kombination die Ausgaben stabil halten können."
Das ist das kleine 1x1 der Wortklauberei. Gleichzeitig gehen Ökonomen davon aus, dass die Fed die Zinssätze sowohl auf ihrer Mai-Sitzung in dieser Woche als auch auf der Sitzung am 14. und 15. Juni um einen halben Punkt anheben wird. Diese Art von "aggressiven" Maßnahmen soll die Nachfrage dämpfen. Die ING will den Kreis unbedingt auch in einer eckigen Version präsentieren.
EZB hinkt der Inflation hinterher; US-Rezession droht
Wenn Stagflation schon schlimm genug klingt, dann klingt Rezession noch schlimmer. Das bekamen die Aktienmärkte am Freitag zu spüren, als die Anleger fluchtartig das Weite suchten. Technisch gesehen kommt es zu einer Rezession, wenn das BIP in zwei aufeinander folgenden Quartalen schrumpft, wir sind also bereits auf halbem Wege.
Die Ökonomen der Deutschen Bank (ETR:DBKGn) schätzen die Lage pessimistischer ein als ihre Kollegen bei der ING. Nachdem sie im April als erste Großbank eine Rezession vorausgesagt hatte, geht das deutsche Finanzinstitut, das in erheblichem Maße an der Wall Street tätig ist, nun noch einen Schritt weiter und prognostiziert eine "große Rezession" in den USA, nicht die milde, mit der sie ursprünglich gerechnet hatte.
Sie verweisen dabei auf die Geschichte und die Tatsache, dass die Fed bei der Bekämpfung der Inflation weiter hinter der Kurve zurückliegt als in den 1980er Jahren. Ohnehin sei es ihr bislang noch nie gelungen, selbst eine geringere Inflation ohne eine signifikante Rezession zu "korrigieren". Die Inflation, so schlussfolgern sie, wird so schnell nicht wieder verschwinden.
Inzwischen entschuldigt sich die Europäische Zentralbank dafür, dass ihre Inflationsprognosen so falsch waren. Die Inflation ist im April auf 7,5 % gestiegen, der sechste Anstieg in Folge und ein Rekordhoch für die Eurozone, was die Zentralbank unter Druck setzt, endlich etwas dagegen zu unternehmen.
Oh nein, sagten die EZB-Expert:innen, unsere Modelle haben den starken Anstieg der Energiepreise, die Störungen in der Lieferkette und die schnell wieder anziehende Nachfrage im Gefolge der Pandemie nicht vorhergesehen.
Nachdem EZB-Beamte unter Anleitung von Präsidentin Christine Lagarde, aber auch von Chefvolkswirt Philip Lane, bis vor kurzem die Notwendigkeit höherer Zinssätze verneint hatten, erwarten Analysten nun, dass die Zentralbank im Juli mit der Anhebung der Zinssätze beginnt - zwei weitere Anhebungen bis Jahresende sollen folgen.
Zwei Länder, die nicht dem Euroraum angehören, Großbritannien und Schweden, warten dagegen nicht auf ein Eingreifen der EZB. Es wird erwartet, dass die Bank of England diese Woche an ihren Mini-Zinsschritten von 0,25 Prozentpunkten festhält und ihren Leitzins zum vierten Mal hintereinander auf 1 % anhebt.
Schwedens Zentralbank hat sich letzte Woche von der Nullzinspolitik verabschiedet und den Leitzins auf 0,25 % angehoben. Damit liegt er erstmals seit 2014 wieder über Null. Die Riksbank erklärte, sie sei bereit, die Zinsen in diesem Jahr noch zwei- oder dreimal zu erhöhen, falls dies zur Bekämpfung der Inflation erforderlich sei.