In den sozialen Medien kursiert derzeit eine Grafik, die viele Marktteilnehmer als Beweis für eine bevorstehende Trendwende sehen. Die Rede ist von der deutlichen Outperformance von Large Cap Growth-Aktien gegenüber Small Cap Value-Aktien. Doch die Argumentation, die auf dieser Grafik beruht, ist nicht nur vereinfachend, sondern auch fehlerhaft.
Die besagte Grafik zeigt das Verhältnis des Kurses eines Large Cap Growth Portfolios zum Kurs eines Small Cap Value Portfolios. Auffällig ist, dass dieses Verhältnis derzeit mehr als zwei Standardabweichungen über dem 30-jährigen Durchschnitt liegt. Einige Marktteilnehmer interpretieren dies als Zeichen dafür, dass Large Cap Growth-Aktien überbewertet sind und eine Korrektur bevorsteht. Doch diese Interpretation ist, gelinde gesagt, problematisch.
Orangensaft und Kaffee
Um die Unsinnigkeit dieser Annahme zu verdeutlichen, ziehen wir einen Vergleich zu zwei beliebten Getränken: Orangensaft und Kaffee. Beide sind Getränke, aber der Preis des einen im Vergleich zum anderen bleibt nicht konstant. Der Preis wird durch individuelle Marktbedingungen, Angebot und Nachfrage bestimmt.
Die Annahme, dass Kaffee im Vergleich zu Orangensaft billig ist, ist allein auf der Grundlage der folgenden Grafik falsch.
Definition von Large Cap Growth und Small Cap Value
Wie Kaffee und Orangensaft unterscheiden sich auch Small Cap Value-Aktien deutlich von Large Cap Growth-Aktien.
Einer der wichtigsten Faktoren, der die Performanceunterschiede zwischen Small Cap-Value- und Large Cap-Wachstumsaktien erklärt, sind die Branchen, in denen die Unternehmen tätig sind, und das mit diesen Branchen verbundene Gewinnwachstum.
Um die Unterschiede zwischen den beiden Aktienfaktoren besser zu verstehen, betrachten wir zwei beliebte ETFs.
- Der IVW ist der iShares S&P 500 Large Cap Growth ETF (NYSE:IVW). Die fünf größten Werte, die etwa 45 % des ETF ausmachen, sind Microsoft (NASDAQ:MSFT) (12,30 %), Apple (NASDAQ:AAPL) (12,10 %), Nvidia (NASDAQ:NVDA) (11,40 %), Amazon (NASDAQ:AMZN) (4,20 %) und Meta (NASDAQ:META) (4,20 %). Die Marktkapitalisierung dieser fünf Aktien beträgt insgesamt 13 Bio. USD. Das ist eine ziemliche Hausnummer, wenn man bedenkt, dass dies mehr als 10 % des Gesamtvolumens der weltweiten Aktienmärkte und ein Viertel des US-Aktienmarktes ausmacht.
- Der IJS ist der iShares S&P 600 Small Cap 600 Value ETF (NYSE:IJS). Die fünf größten Positionen, die weniger als 5 % des ETF ausmachen, sind Robert Half (NYSE:RHI) (1,05%), Comerica (NYSE:CMA) (1,04%), Mr. Cooper Group (NASDAQ:COOP) (0,88 %), Organon (NYSE:OGN) (0,86 %) und Lincoln National (NYSE:LNC) (0,86 %). Ihre gemeinsame Marktkapitalisierung beträgt 31 Mrd. USD, was der Größe von Archer Daniels Midland (NYSE:ADM) entspricht, der 273. größten Aktie im S&P 500.
Aufschlüsselung nach Sektoren
Die folgende Abbildung zeigt die großen Unterschiede zwischen den Beiträgen der einzelnen Sektoren im IVW und im IJS.
Technologieaktien machen 50 % des IVW, aber weniger als 10 % des IJS aus. Umgekehrt machen Finanzwerte 28 % des IJS, aber nur 5 % des IVW aus. Versorger und Immobilien machen zusammen weniger als 1 % des IVW, aber mehr als 10 % des IJS aus.
Die einzelnen Sektoren und die ihnen zugrunde liegenden Unternehmen weisen unterschiedliche Wachstumsprofile auf. Der Technologiesektor weist tendenziell das höchste Gewinnwachstum auf. Finanzwerte, Versorger (NYSE:XLU) und Immobilien weisen oft zuverlässigere, aber langsamere bzw. geringere Wachstumsraten auf.
Die Earnings sind entscheidend
Stellen Sie sich dazu diese Frage:
Sollte ein ETF, der Unternehmen mit zweistelligen Gewinnwachstumsraten enthält, eine konstante Preisrelation zu einem ETF aufweisen, der Unternehmen mit deutlich niedrigeren Gewinnwachstumsraten enthält?
Um diese Frage zu beantworten, betrachten Sie das folgende Streudiagramm. Es zeigt die annualisierten 10-Jahres-Kursrenditen des S&P 500 mit den annualisierten 10-Jahres-Wachstumsraten der Earnings. Beachten Sie, dass die Trendlinie aufsteigend ist, was bedeutet, dass ein höheres Gewinnwachstum zu höheren Aktienkursen führt und umgekehrt.
Microsoft und Robert Half
Zur besseren Einschätzung des fairen Wertes eines Aktienpaares führen wir eine ähnliche Analyse wie in der ersten Grafik durch, verwenden aber stattdessen die größten Bestandteile des IVW und des IJS, Microsoft und Robert Half. Dem folgenden Schaubild zufolge ist Microsoft im Vergleich zu Robert Half deutlich überbewertet, wenn die Logik des ersten Diagramms richtig ist.
Das folgende Diagramm zeigt die kumulative Wachstumsrate des Nettoeinkommens von Microsoft und Robert Half. Seit dem Jahr 2000 hat Microsoft sein Nettoeinkommen mit einer jährlichen Rate von 15 % gesteigert. Das Nettoeinkommen von Robert Half wuchs mit einer jährlichen Rate von 6 %.
Das letzte Schaubild mit dem kumulierten Gewinnwachstum rückt das Preisverhältnis in eine realistischere Perspektive.
Anstelle des durchschnittlichen Preisverhältnisses wird in der Abbildung das anfängliche Preisverhältnis herangezogen und angepasst, ebenso wie die Standardabweichungen für die kumulierten Einkommensunterschiede. Erwartungsgemäß steigt das durchschnittliche Kursverhältnis oder das, was manche als fairen Wert bezeichnen würden, im Laufe der Zeit an. In den letzten 20 Jahren war Microsoft im Vergleich zu Robert Half um weniger als eine Standardabweichung überbewertet und nicht um sieben, wie das durchschnittliche Kursverhältnis vermuten lässt.
Man kann darüber diskutieren, wo die Trendlinie beginnen soll und welche Zeiträume verwendet werden sollen. Solche Annahmen verschieben die Linien für den "Durchschnitt" und die Standardabweichung nach oben oder unten. Unstrittig ist, dass eine aussagekräftige Analyse des Kursverhältnisses zweier Aktien nicht allein auf den Kursen beruhen darf.
ETFs im Vergleich zu Aktien
Die obige Analyse bezieht sich auf zwei Unternehmen. Im Laufe der Zeit wird sich das Gewinnwachstum von Microsoft verlangsamen und das Unternehmen wird nicht mehr als Wachstumswert gelten. Irgendwann könnte sich das Gewinnwachstum von Microsoft und Robert Half annähern und der faire Wert beider Unternehmen könnte viel näher an einer flachen Linie liegen.
Was wir jedoch beanstanden, ist die erste Grafik, die großkapitalisierte Wachstumsaktien mit kleinkapitalisierten Value-Aktien vergleicht. Im Laufe der Zeit werden Aktien aus beiden Indizes entfernt oder hinzugefügt, um sicherzustellen, dass sie weiterhin ihre Ziele widerspiegeln. Im Gegensatz zu Microsoft und Robert Half, bei denen sich der Unterschied im Gewinnwachstum verringern könnte, wird der Unterschied im Gewinnwachstum der ETFs wahrscheinlich viel konstanter bleiben, selbst wenn sich die zugrunde liegenden Aktien in den beiden Indizes ändern.
Rückkäufe
Auch der Faktor Aktienrückkäufe muss berücksichtigt werden. Größere Unternehmen kaufen viel mehr Aktien zurück als kleinere. Daher wird ihr Gewinn pro Aktie schneller wachsen.
Fazit
Wir beenden diesen Artikel so, wie wir ihn begonnen haben - mit der zugrunde liegenden Grafik. Wir haben jedoch keinen Zugang zu langfristigen Earnings-Daten für einen Large Cap Growth oder Small Cap Value Index. Daher können wir keine Analysen wie für Microsoft oder Robert Half erstellen.
Die folgende Grafik bietet jedoch eine wesentlich bessere Annäherung an die Chancen, die Small Cap Value-Aktien im Vergleich zu Large Cap-Wachstumstiteln bieten.
Das Ergebnis ist bei weitem nicht so verlockend, wie es in der ersten Grafik den Anschein hat.