FARNBOROUGH/LONDON (dpa-AFX) - Bei der ersten großen Luftfahrtmesse seit der Corona-Pandemie erwarten Experten kein ganz so großes Auftragsfeuerwerk wie vor der Krise. Ab diesem Montag (18. Juli) präsentieren Hersteller wie Airbus (EPA:AIR) und Boeing (NYSE:BA) im britischen Farnborough südwestlich von London ihre Produkte und buhlen um Bestellungen. Angesichts des Klimawandels steht auch das Thema CO2-Einsparung weit oben auf der Agenda. Die großen Flugzeughersteller erwarten für die kommenden Jahre wieder eine starke Nachfrage nach Passagier- und Frachtjets. In Farnborough könnte sich ein Stück weit zeigen, wie sich der von vielen Problemen gebeutelte US-Konzern Boeing gegenüber dem inzwischen weltgrößten Flugzeugbauer Airbus aus Europa schlägt.
In den vergangenen beiden Jahren waren die weltgrößten Luftfahrtmessen wegen der Pandemie ausgefallen. Die Farnborough Airshow wechselt sich sonst jährlich mit dem Pariser Aérosalon am Flughafen Le Bourget ab. Auf den Messen versuchen sich die Hersteller traditionell mit der Bekanntgabe von Neubestellungen zu überbieten.
Dass das Auftragsfeuerwerk diesmal so groß ausfällt wie früher, halten Branchenexperten für fraglich. In den Jahren 2015 bis 2019 hätten die Hersteller bei den Messen im Sommer im Schnitt zusammen etwa 800 Bestellungen bekannt gegeben, schreibt Luftfahrt-Analyst Ken Herbert von der kanadischen Bank RBC.
Nach Einschätzung seiner Kollegin Sheila Kahyaoglu vom Analysehaus Jefferies dürften derzeit zwar etwa so viele Bestellungen in Arbeit sein. Diese würden aber wohl nicht alle auf der Messe verkündet. RBC-Analyst Herbert erwartet Aufträge über etwa 500 Flugzeuge. Kahyaoglu zufolge könnte die US-Fluggesellschaft Delta sowohl mehr als 100 Boeing-Mittelstreckenjets vom Typ 737 Max als auch Exemplare des kleinsten Airbus-Jets A220 bestellen. Airbus hatte schon Anfang Juli Großaufträge chinesischer Airlines über fast 300 Maschinen bekannt gegeben - diese Deals gehen daher nicht in die Messe-Bilanz ein.
Im Massengeschäft mit Kurz- und Mittelstreckenjets hat Airbus den einstigen Marktführer Boeing längst abgehängt. In den vergangenen zehn Jahren sicherte sich der europäische Hersteller in diesem Segment einen Marktanteil von fast 70 Prozent. Der Erfolg liegt vor allem an der modernisierten Neuauflage der Modellfamilie A320 unter dem Namen A320neo, die deutlich weniger Treibstoff verbraucht als ihre Vorgängerin.
Für Boeing geriet die Modernisierung des betagten Konkurrenzmodells 737 hingegen zum Desaster. Nach zwei Abstürzen mit 346 Toten durfte die Boeing 737 Max mehr als anderthalb Jahre lang weltweit nicht abheben. Erst seit einer Überarbeitung des Jets wurden die Verbote seit November 2020 nach und nach aufgehoben. Noch heute leidet Boeing unter den Nachwirkungen. Während Airbus die Produktion der A320neo-Familie nach der Krise bereits auf rund 50 Jets pro Monat hochgefahren hat und für das Jahr 2025 eine Rekordproduktion von monatlich 75 Stück anpeilt, lag Boeing bei der "Max" zuletzt bei lediglich 31 Maschinen.
Der Konzern richte die Produktion an der Zahl der gelieferten Triebwerke des Herstellers CFM aus, sagte der Chef von Boeings Verkehrsflugzeugsparte, Stan Deal, am Sonntag in London. Fehlende Triebwerke seien derzeit die größte Einschränkung. Das CFM-Triebwerk der 737 Max kommt in einer anderen Version auch etwa bei jedem zweiten Airbus A320neo zum Einsatz.
Wie die Nachfrage nach Kurz- und Mittelstreckenflügen erholt sich auch der Bedarf an den entsprechenden Flugzeugen zuerst von der Corona-Pandemie. Gern würde Boeing dafür auch die Langversion 737 Max 10 an den Start bringen. Doch deren Zulassung zieht sich hin. Winken die US-Regulierer den Jet nicht bis Jahresende durch oder gewähren Aufschub, droht Boeing aufgrund einer Gesetzesänderung von 2020 die teure Einführung eines ganz neuen Cockpit-Warnsystems.
Ohne eine Einigung mit dem Kongress könnte Boeing gezwungen sein, die 737 Max 10 einzustellen, hatte Boeing-Chef Dave Calhoun vor wenigen Tagen dem Branchenblatt "Aviation Week" gesagt. Nach Aussage von Spartenchef Stan Deal hält Boeing es aber für nicht sehr wahrscheinlich, dass es zu diesem drastischen Schritt kommt.
Mit der "Max 10" tritt Boeing gegen Airbus' Verkaufsschlager A321neo an - die Langversion der A320neo. Dieser macht bei den Europäern schon seit Längerem den Großteil der Neubestellungen im Segment der Schmalrumpf-Flugzeuge aus. Von der Maschine hat Airbus auch eine Langstreckenversion mit dem Namen A321XLR entwickelt. Sie soll Anfang 2024 in den Liniendienst gehen.
Die Nachfrage nach großen Langstreckenjets dümpelt unterdessen vor sich hin - außer im Frachtsegment. Beide Hersteller hatten die Produktion der großen Maschinen wegen des Nachfrageeinbruchs in der Pandemie besonders stark gedrosselt. Doch während Airbus seine Typen A350 und A330neo weiterhin durchgehend ausliefert, klappt das bei Boeing nur beim älteren Modell 777.
Dessen Neuauflage 777X musste der Hersteller sogar auf das Jahr 2025 verschieben. Und die kleinere Boeing 787 "Dreamliner" kann er wegen Produktionsproblemen schon seit rund einem Jahr nicht mehr ausliefern. Die Gespräche mit der US-Luftfahrtbehörde FAA zur Wiederaufnahme der Auslieferungen seien sehr weit fortgeschritten, sagte Boeing-Manager Deal am Sonntag, nannte aber keinen Zeitplan.
Unterdessen rechnet der US-Konzern in den nächsten zehn Jahren mit einem größeren Bedarf an neuen Jets als zuletzt. In der Zeit von 2022 bis 2031 dürften etwa 19 575 neue Passagier- und Frachtmaschinen den Weg zu ihren Kunden finden, teilte Boeing in der Nacht zum Sonntag mit. Damit liegt der prognostizierte Bedarf etwa höher als 2021 für zehn Jahre vorhergesagt - obwohl Boeing da noch 710 Flugzeuge für russische Airlines eingerechnet hatte. Inzwischen schreibe der Hersteller Russland als Absatzmarkt für sich ab, sagte der Marketingchef von Boeings Verkehrsflugzeugsparte, Darren Hulst, mit Blick auf die Sanktionen gegen das Land wegen dessen Angriffs auf die Ukraine.
Auf die 20 Jahre bis 2041 gesehen erwartet der Hersteller jedoch einen geringeren Bedarf an neuen Maschinen als bisher. So geht Boeing für die zwei Jahrzehnte von einer weltweiten Nachfrage nach etwa 41 170 Passagier- und Frachtmaschinen aus. Vor einem Jahr hatte das Management noch 43 610 Stück erwartet. Boeing legte seinen Prognosen ein geringeres Wachstum der Weltwirtschaft und für das zweite Jahrzehnt einen gesättigteren Luftfahrtmarkt zugrunde.
Anders als Boeing rechnet Airbus für die nächsten 20 Jahre mit einem größeren Bedarf an neuen Flugzeugen als zuletzt. In seinem vor wenigen Tagen veröffentlichten Marktausblick sagte der weltgrößte Flugzeughersteller für die Zeit bis 2041 der Branche einen Absatz von 39 490 Maschinen voraus, das sind 470 mehr als im vergangenen Jahr für die Zeit bis 2040 veranschlagt.