* Auch Bruder und Mutter sterben im Mittelmeer
* Familie in Syrien wollte nach Kanada - wurde aber abgelehnt
* Frankreichs Premier: "Wir müssen dringend etwas tun
- von Tulay Karadeniz
Ankara, 03. Sep (Reuters) - Das Bild des toten Kindes aus Syrien am Strand von Bodrum geht um die Welt. Es löst Entsetzen, Bestürzung und Trauer aus. Für viele steht es auch für die Tatenlosigkeit der entwickelten Länder in der Flüchtlingskrise. "Er hatte einen Namen: Aylan. Wir müssen dringend etwas tun", twitterte Frankreichs Ministerpräsident Manuel Valls am Donnerstag. Am Mittwoch war die Leiche des Dreijährigen an den Strand der türkischen Ägäis gespült worden. Sein fünf Jahre alter Bruder und seine Mutter kamen bei der Flucht aus Kobane ebenfalls ums Leben. Der Vater Abdullah konnte halb-bewusstlos gerettet werden.
Viele Zeitungen veröffentlichten das Foto als Sinnbild der Flüchtlingskrise. "Bild" widmete dem Jungen die komplette letzte Seite. Auf schwarzem Hintergrund ist nur das Foto zu sehen. Es müsse gezeigt werden, steht darunter. "Dieses Foto ist eine Botschaft an die ganze Welt, endlich vereint dafür zu sorgen, dass kein einziges Kind mehr auf der Flucht stirbt." Die Online-Redaktion des "Merkurs" entschied sich gegen eine Veröffentlichung. Sie wolle weiter ungeschönt über die Flüchtlingskrise berichten. "Aber ohne einen toten Buben zu zeigen."
Seine Familie wollte zu Verwandten nach Kanada. Wie die in Vancouver lebende Schwester des Vaters einer kanadischen Zeitung berichtete, wurde ihr aber die Einreise im Juni verweigert. Es habe Probleme mit den Papieren aus der Türkei gegeben, sagte sie der "National Post". "Ich wollte sie finanziell unterstützen, und meine Freunde und Nachbarn haben mir mit den Bankkonten geholfen. Aber wir konnten sie nicht herausholen, und deshalb sind sie auf das Boot gegangen." Eine andere Schwägerin habe sie am Donnerstagmorgen über die Tragödie informiert. "Sie bekam einen Anruf von Abdullah. Alles was er sagen konnte war: meine Frau und beiden Jungs sind tot."
"ES TUT MIR LEID, KLEINER ENGEL"
Das Flüchtlingsboot war auf dem Weg von der Türkei zur griechischen Insel Kos. Mindestens zwölf Menschen kamen bei dem Untergang ums Leben. Die aus Syrien stammenden Flüchtlinge waren in zwei Booten unterwegs. Millionen Syrer sind mittlerweile vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land in die benachbarte Türkei geflohen. Viele versuchen, über das Mittelmeer in oft seeuntüchtigen Booten Griechenland zu erreichen und dann vor allem nach Deutschland weiterzuziehen.
Hilfsorganisationen schätzen, dass allein im August pro Tag rund 2000 Menschen versuchten, die vergleichsweise kurze Meerpassage zwischen türkischem Festland und griechischen Inseln zu überwinden. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR geht davon aus, dass in diesem Jahr über 2500 Menschen bei dem Versuch ertrunken sind, das Mittelmeer zu überqueren.
Auch in Großbritannien erhöht sich der Druck auf Premierminister David Cameron, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. "Mr. Cameron, der Sommer ist vorbei", titelte das meisteverkaufte Blatt des Landes, die "Sun". Nun solle er sich um die größte Krise in Europa seit dem zweiten Weltkrieg kümmern. Noch im April stand das Blatt in der Kritik, weil ein Kolumnist Flüchtlinge mit Kakerlaken verglich. "Ohne Mitgefühl sind wir nichts. In Syrien haben wir versagt", schrieb der Abgeordnete Nadhim Zahawi von Camerons konservativer Partei. Für Aylan kommt diese Erkenntnis allerdings zu spät: "Es tut mir leid, kleiner Engel. Ruhe in Frieden", fügte Zahawi hinzu.
(Weitere Reporter: Andrew Callus, Estelle Shirbon, geschrieben von Kerstin Dörr,; redigiert von Alexander Ratz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Redaktionsleitung unter den Telefonnummern 069-7565 1312 oder 030-2888 5168.)