Von Clement Thibault
In nur wenigen Tagen, am 23. Juni, könnte die politische und wirtschaftliche Zukunft der Europäischen Union durch das Referendum Großbritanniens über den Verbleib des Landes im Staatenverbund für immer verändert werden. Der „Brexit“ – kurz für „Britain Exit“ – also der Austritt Großbritanniens aus der EU, hätte weitreichende Folgen für die Wirtschaften des Landes und der Union, aber auch für die globalen Devisen- und Aktienmärkte.
In einer dreiteiligen Artikelserie (Der ertse Teil wurde Anfang dieser Woche veröffentlicht - Das Brexit-Referendum: Alles, was Sie schon immer darüber wissen wollten werfen wir im Laufe der Woche einen ausführlichen Blick auf das Votum und seine Auswirkungen auf alle Beteiligten. Der heutige Artikel beschäftigt sich mit den Auswirkungen eines Verbleibs und eines Austritts auf die wichtigsten Währungen. Im ersten Teil der Serie, der am Dienstag veröffentlicht wurde, wurden die Gründe für das Referendum besprochen. Im dritten Teil werden in der kommenden Woche die Auswirkungen des Ergebnisses auf britische und globale Aktienkurse erörtert.
Die vorherrschende Meinung geht im Falle eines Brexits von einer Schwäche des Pfund Sterling gegenüber anderen Währungen, insbesondere dem US-Dollar, aus. Der Grund dafür ist das Leistungsbilanzdefizit Großbritanniens.
Die Leistungsbilanz wird in Investopedia als „die Differenz zwischen den Ersparnissen und den Investitionen eines Landes“ definiert. Die Differenz zwischen der Kapitalmenge, die in die Wirtschaft des Landes hinein und hinaus fließt, ist ein wichtiger Indikator für die wirtschaftliche Gesundheit einer Nation. In Q1 2016 lag das Leistungsbilanzdefizit Großbritanniens bei -32,7 Mrd. Pfund Sterling (43.6 Mrd. US-Dollar). Laut BBC ist das das höchste Defizit des Landes seit Beginn der Aufzeichnungen.
Eine Schrumpfung des Defizits würde eine Erholung der britischen Wirtschaft signalisieren. Unglücklicherweise jedoch geht der Trend in die entgegengesetzte Richtung. Erschwerend hinzu kommt außerdem, dass das aktuelle Leistungsbilanzdefizit das größte der Neuzeit ist, wie in der nachstehenden Grafik dargestellt.
Ziehen wir zum Vergleich die Leistungsbilanzen anderer Länder hinzu: Frankreichs Leistungsbilanz für den gleichen Zeitraum lag bei -1,8 Mrd. Euro (2,02 Mrd. US-Dollar), Deutschland wies für Q1 eine monatliche Leistungsbilanz von plus 21,7 Mrd. Euro (24,3 Mrd. US-Dollar) auf.
Der Leistungsbilanzindex misst die Differenz zwischen Warenimporten und -exporten sowie Dienstleistungen und Zinszahlungen für den jeweiligen Monat oder das jeweilige Quartal. Die Warensparte entspricht der Handelsbilanz.
Wechselkurse haben beträchtliche Auswirkungen auf die Handelsbilanz eines Landes. So würde zum Beispiel ein schwaches Pfund importierte Waren für britische Verbraucher verteuern, gleichzeitig jedoch die Wettbewerbsfähigkeit britischer Waren im Ausland verbessern. Ein starkes Pfund hätte einen gegenteiligen Effekt – importierte Waren würden für die Briten günstiger werden, allerdings würden die Exporte des Landes im Preis steigen. Offensichtlich hat jedes Szenario seine Nachteile.
Wird das Ungleichgewicht in beiden Fällen zu groß, so führt dies zu einer Ausweitung der Leistungsbilanz. Bei einem Defizit schwächelt die Wirtschaft.
Wird bei dem Referendum ein Austritt Großbritanniens aus der EU beschlossen, dann könnte der Sterling-Kurs einbrechen. Zum Teil ist dies auf die Erwartung zurückzuführen, dass ausländische Kapitalströme infolge der Annullierung der Handelsvereinbarungen mit der EU abnehmen oder sogar ganz versiegen werden. Goldman-Sachs zufolge könnte dies zu einer 15- bis 20-prozentigen Abwertung des Pfundes führen.
Eine technische Analyse des GBP/USD-Charts führt zum gleichen Ergebnis. Betrachtet man die Wertschwankungen des Pfundes über die letzten dreißig Jahre (und wir sprechen hier von massiven Makroauswirkungen), dann befindet er sich aktuell im unteren Abschnitt des Statistikbereichs.
Der bisherige Tiefpunkt von 1,0438 wurde im März 1985 erreicht. Sollte der Sterling-Kurs als Reaktion auf einen Austritt des Landes aus der EU fallen, dann würde sein neues Unterstützungsniveau in einem Bereich liegen, der seit dieser Zeit nicht mehr getestet wurde.
In einem solchen Fall würde das nächste Unterstützungsniveau bei 1,22 identifiziert werden. Unterstützung auf diesem Niveau würde der düsteren Prophezeiung von Goldman Sachs (NYSE:GS) in der Tat einiges an Glaubwürdigkeit verleihen.
Offensichtlich hätte ein Brexit Auswirkungen auf das Pfund, aber auch der Euro würde davon stark betroffen werden. Der Austritt Großbritanniens könnte weiter an dem bereits wackligen Gerüst der EU rütteln. Insbesondere seien hier die osteuropäischen Länder erwähnt, in denen bereits seit geraumer Zeit Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik der Gemeinschaft gärt. Einige, wenn nicht alle diese Länder, könnten sich dazu entschließen, dem Beispiel der Insel zu folgen.
Zusätzlich könnte ein Austritt die wirtschaftliche Erholung der EU zurückwerfen, da die Umsätze der übrigen Mitgliedstaaten schrumpfen würden. Es ist nur logisch anzunehmen, dass eine solche Destabilisierung der Union katastrophale Auswirkungen auf ihre Währung hätte.
Bei diesem Szenario sehen wir die Möglichkeit einer 5- bis 10-prozentigen Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar. Wird das Unterstützungsniveau des vergangenen Jahres durchbrochen, dann ist der nächste Schritt die Parität – eine wichtige psychologische Ebene, auf der beide Währungen gleich bewertet werden.
Zuletzt stand das Paar Ende 2002 bei 1,00. Anschließend stieg es allmählich an, bis im Juli 2008 ein Stand von 1,5990 erreicht wurde.
Im schlimmsten Fall könnte der Euro das Unterstützungsniveau bei 1,00 ebenfalls durchbrechen. Dann bestünde die Möglichkeit einer Abwertung auf einen Bereich zwischen 0,88 und 0,8252; dieses Szenario ist jedoch höchst unwahrscheinlich. Es könnte allerdings dazu kommen, falls der Brexit einen Dominoeffekt innerhalb der EU auslösen sollte. Zur Absicherung gegen dieses Untergangsszenario empfehlen viele FX-Analysten den Yen und den Schweizer Franken als Safe-Haven-Anlagen.
In Teil III der Serie analysieren wir die Auswirkungen auf die britischen und die globalen Aktienkurse. Teil I der Serie finden Sie hier.