Das Schöne an Börsenweisheiten ist, dass sie nie aus der Mode kommen. Dazu zählt die Erkenntnis, dass jeder an der Börse auf seine Art und Weise Geld verdienen kann, außer denjenigen, die den Hals nicht voll bekommen können. Gier ist sicherlich eine wichtige Triebkraft, um außergewöhnlichen finanziellen Erfolg am Kapitalmarkt zu haben. Aber ungezügelte Gier führt am Ende regelmäßig zum finanziellen Ruin.
Das Beispiel China illustriert dies sehr eindrücklich. Der chinesische Aktienmarkt war in diesem Jahr ein prall gefülltes Buffet für alle Short-Seller, wovon diese mehr als genug Gebrauch machten. In der Tat war die Short-Spekulation auf chinesische Aktien in Kombination mit einer Long Spekulation auf amerikanische Aktien der beliebteste Trade an der Börse.
Die Schwäche des chinesischen Aktienmarktes war durchaus berechtigt. Peking hat die kapitalistische Freizügigkeit im Inland in den vergangenen Jahren unter der Führung von Präsident Xi Jinping massiv eingeschränkt und die größten Wohlstandskatalysatoren mit Vorsatz und auch Willkür beendet. Vor dem Hintergrund der harschen Lockdowns während der Covid-Pandemie ergab sich damit eine toxische Mischung, die die hohe positive Dynamik aus der chinesischen Volkswirtschaft nahm.
Im Bewusstsein, dass man die Wirtschaft zuletzt zu stark eingeschränkt hatte, arbeitet Peking seit dem Sommer 2023 daran, die größten Belastungen zu bereinigen. Dazu gehört, dass die Peoples Bank of China die Zinssätze sukzessive senkte, wenngleich der Umfang immer noch vergleichsweise bescheiden ist und bisher auch nicht half, die Schwäche der Wirtschaft aufzufangen.
Xi hat seinen Draghi-Moment
Ende September hatte Xi dann seinen Draghi-Moment. Unterstützt vonseiten der Federal Reserve, deren Zinssenkung den Druck auf den Yuan reduzierte, zog Chinas Präsident einen Strich unter die Misere und veranlasste das Politbüro, ein umfassendes Konjunkturpaket vom Stapel zu lassen. Dazu gehörten neben niedrigeren Zinsen auch eine Verringerung der Mindestreserve für die Banken, was Eigenkapital befreit, um das Kreditgeschäft zu beflügeln. Auch für Käufer von Zweit-Immobilien gibt es eine Verringerung der Mindest-Eigenkapitalanforderung, um das Interesse zu erhöhen.
Gleichzeitig kündigte das chinesische Finanzministerium an, dass man zweckgebundene Staatsanleihen im Umfang von rund 2 Billionen Yuan (ca. 258 Mrd. Euro) emittieren wird, um die Konjunktur zu unterstützen. Die Hälfte der Erlöse sollen eingesetzt werden, um den Konsum im Inland anzukurbeln. Dazu zählt z.B. auch ein Kindergeld für Haushalte mit zwei oder mehr Kindern in Höhe von 800 Yuan (ca. 103 Euro). Die andere Hälfte soll eingesetzt werden, um die Provinzen bei der Sanierung ihrer Schulden zu unterstützen, wobei der Fokus auf dem Immobilienmarkt liegt, der zum ersten Mal seit Dekaden einen Rückgang der Investition erlebt. Worauf die Anleger jedoch besonders spekulierten, war eine direkte staatliche Intervention am Aktienmarkt. Mit ganz konkreten Folgen:
Größter Short-Squeeze in der chinesischen Geschichte
Die Kursexplosion im Inlandsmarkt war der größte Short-Squeeze, den wir bisher im chinesischen Aktienmarkt gesehen haben. Die Ausgangssituation war besonders brenzlig für die Short-Seller, denn alle waren bereits in dem Trade „drin“, die Bewertungen der wichtigsten Marktführer waren bereits sehr niedrig und es gab keinen Katalysator, dass sich die Lage weiter erheblich verschlechtert, was neue Short-Positionen gerechtfertigt hätte. Stattdessen kündigte Peking kurz vor der Goldenen Woche sein Konjunkturprogramm an, was die Short-Seller dazu zwang, in einen „trockenen“ Markt hinein ihre Positionen durch Rückkäufe einzudecken.
Doch warum kaufen Short-Seller Aktien zu jedem Preis zurück? Weil die Verluste bei Short-Positionen ungedeckelt sind. Analog zu den theoretisch unbegrenzten Gewinnen bei Long-Positionen, erleiden Short-Seller theoretisch unbegrenzte Verluste, wenn der Kurs steigt.
In der Praxis beenden die Broker das Leiden der Short-Seller, wenn sie es nicht selbst machen. Um sich selbst vor Ansprüchen Dritter zu schützen, die aus einer Zahlungsunfähigkeit des Short-Sellers entstehen können, vereinbaren Broker Sicherheitsmargen, die eingehalten werden müssen. Dies sind Kapitalpuffer, die aufgebraucht werden, wenn der Trade gegen die Short-Seller läuft. Bevor der Puffer aufgebraucht ist, bekommt der Kunde einen telefonischen oder elektronischen Hinweis, dass umgehend – nicht übermorgen, nicht morgen, sondern heute – Kapital nachgeschossen werden muss. Kommt der Short-Seller diesem Margin Call nicht nach, deckt der Broker die Short-Position durch den Kauf einer Gegenposition ein. Dabei wird „billigst“ gekauft, was in einem Short-Squeeze sehr teuer werden kann. Den Verlust trägt der Short-Seller, nicht der Broker.
Dieses Szenario stellen Sie sich nun bitte nicht für eine Einzelaktie, sondern für den gesamten chinesischen Markt vor. Dann haben Sie den Hauptkatalysator vor sich, warum der schwächste Aktienmarkt der Welt in diesem Jahr aus dem Stand heraus der erfolgreichste Aktienmarkt geworden ist.
Die entscheidende Frage ist nun natürlich, ob die Gewinne auch halten werden. Der Short-Squeeze ist nur ein kurzfristiger Effekt, der aufgrund der Margin Calls vergleichsweise schnell in wenigen Tagen bereinigt ist. Was danach kommt, ist entweder eine Rückkehr zu den alten Kursniveaus, weil es keinen neuen intrinsischen Katalysator gibt, der zu echten Käufen animiert, oder die Bullen entdecken eine völlig neue Equity-Story und bauen auf den hohen Kursgewinnen auf, um den Markt weiter voranzutreiben.
Das dritte Szenario betrifft die Short-Seller selbst. Denn der Short-Squeeze war so breit angelegt und so umfassend, dass die Verluste bei den institutionellen Investoren und Hedgefonds erheblich sind. Die ersten groben Schätzungen gehen von Verlusten von mehr als 7 Mrd. US-Dollar aus. Diese beziehen sich aber lediglich auf die in den USA gelisteten Aktien. Der Umfang der gesamten Verluste aus Short-Positionen liegt also weit höher. Die entscheidende Frage ist daher, ob die eine oder andere Adresse sich überhoben hat und sich zu stark gegenüber dem Short-Trade exponiert hat. Womit wir wieder bei der alten Börsenweisheit sind: Bulls Make Money, Bears Make Money, Pigs Get Slaughtered.
Ein Artikel von
Mikey Fritz
Chefredakteur Zürcher Finanzbrief