In Teil 1, der gestern veröffentlicht wurde, konzentrierten wir uns auf die wachsenden Versorgungsrisiken auf dem aktuellen Ölmarkt. Im heutigen Beitrag untersuchen wir die jüngsten Angebotstrends, um die Perspektiven für eine mögliche Schließung der Versorgungslücke zu ermitteln.
OPEC: Der Kampf um die Fördermenge geht weiter
Im jüngsten Monatsbericht der IEA zum Ölmarkt wird der Schlüsselfaktor für den Rückgang der internationalen Ölbestände genannt:
"Die chronische Untererfüllung der OPEC+-Ziele, die seit Anfang 2021 300 Millionen Barrel Öl weniger auf den Markt gebracht hat."
Wie ich schon früher geschrieben habe, kämpfen viele OPEC+-Mitglieder mit dem gleichen Gegenwind, der die US-Schieferölproduktion bremst: Unterinvestitionen. Dabei handelt es sich um ein langfristiges Problem, das sich mit jeder monatlichen Datenerfassung weiter zeigt.
Laut dem letzten OPEC-Produktionsbericht, der in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde, hat das Ölkartell ihre Förderquote erneut um über 600.000 Barrel pro Tag unterschritten. Das Problem ist auf die anhaltenden Produktionsschwierigkeiten in den OPEC+-Mitgliedsländern der Peripherie zurückzuführen, zu denen unter anderem Angola und Nigeria gehören.
Die einzigen beiden OPEC+-Mitglieder mit beträchtlichen Kapazitätsreserven sind Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Niemand weiß genau, wie hoch die ungenutzten Kapazitäten sind, aber die Konsensschätzungen bewegen sich zwischen 2,5 und 3 Millionen Barrel täglich für die Gesamtproduktion beider Länder. Theoretisch könnten sowohl Saudi-Arabien als auch die VAE, wenn sie die Hähne denn öffnen und auf Hochtouren produzieren würden, die russischen Förderausfälle annähernd ausgleichen, die sich laut IEA auf 3 bis 4 Millionen Barrel pro Tag belaufen könnten.
Können Saudi-Arabien und die VAE eine globale Energiekrise verhindern?
Angesichts der katastrophalen Ölversorgungslage bemühen sich Politiker in den USA, Europa und Japan darum, sowohl Saudi-Arabien als auch die VAE davon zu überzeugen, ihre Kapazitätsreserven auszuschöpfen und auf den Markt zu bringen. Dabei gibt es freilich mehrere Herausforderungen.
Zum einen würde dies einen Bruch der derzeitigen OPEC+-Koalition bedeuten, da beide Länder ihre vereinbarten Produktionsquoten überschreiten würden. Natürlich ist alles möglich - vor allem in einer ausgewachsenen Energiekrise. Aber zum jetzigen Zeitpunkt gibt es kaum Anzeichen dafür, dass eines der beiden Länder die Absicht hat, das derzeitige OPEC+-Abkommen zu kippen.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Graben zwischen dem Weißen Haus und Saudi-Arabien sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten immer tiefer wird. Ein großer Teil dieses Zerwürfnisses lässt sich auf Präsident Biden zurückführen, der sich gegen die Unterstützung der Bemühungen beider Länder im anhaltenden Bürgerkrieg im Jemen ausgesprochen hat. Die wachsende Kluft lässt sich am besten an der Meldung festmachen, dass weder Vertreter Saudi-Arabiens noch der VAE auf Bidens Anrufe in den ersten Tagen der russischen Invasion in der Ukraine reagierten. Noch komplizierter wird die Angelegenheit durch Bidens nachgiebige Haltung gegenüber Saudi-Arabiens größtem regionalen Rivalen Iran (dazu gleich mehr).
Das zweite Problem ergibt sich aus dem nachstehenden Schaubild - ein Einbruch der Bohraktivitäten sowohl in Saudi-Arabien als auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten um fast 50 % unter das Niveau vor COVID:
Um ihre Produktionskapazitäten voll ausschöpfen zu können, müssten beide Länder aller Voraussicht nach ihre Bohraktivitäten erhöhen. Selbst bei einer Entscheidung für eine maximale Förderung könnte es also noch sechs bis zwölf Monate dauern, bis die Produktion vollständig hochgefahren ist.
Hinzu kommt die Tatsache, dass beide Länder bei voller Förderung praktisch alle freien Kapazitäten auf dem Markt auslöschen würden. Ohne diesen kritischen Angebotspuffer würde der Markt sehr wahrscheinlich eine Risikoprämie einpreisen und so die Preise in die Höhe treiben. In diesem Fall würde sich die Mehrproduktion der Saudis und der Vereinigten Arabischen Emirate selbst aufheben.
Angesichts all dieses Gegenwinds ist es nicht sonderlich überraschend, dass die Biden-Administration auf der ganzen Welt nach jedem zusätzlichen Barrel sucht, das sie in die Finger bekommt - auch im Iran und in Venezuela.
Iran-Deal: Die Verhandlungen laufen
Die US-Sanktionen gegen den Iran und Venezuela sorgen dafür, dass die Ölproduktion in beiden Ländern unter der Kapazität liegt. Nun verhandelt die Biden-Regierung mit beiden Ländern, um die Sanktionen möglicherweise aufzuheben und die ausgefallene Produktion wieder auf den Markt zu bringen.
Die beste Wahl ist hier mit Abstand der Iran, der innerhalb von sechs bis zwölf Monaten etwa 1 Million Barrel täglich neu bereitstellen könnte. Außerdem hat der Iran etwa 100 Millionen Barrel Öl auf Lager, die sofort verkauft werden können, sollten die Sanktionen aufgehoben werden. Jüngste Berichte deuten auf Fortschritte bei den Verhandlungen mit dem Iran hin, was auf eine baldige Einigung hoffen lässt.
Die sofortige Freigabe von 100 Millionen eingelagerten Fässern könnte kurzfristig für eine gewisse Entlastung auf dem Ölmarkt sorgen. Auf längere Sicht jedoch dürfte das zusätzliche Iran-Angebot die wegfallenden russischen Fässer nicht vollständig ausgleichen. Zugleich ist die Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran und die Möglichkeit, dass das Land sein Atomprogramm weiter verfolgt, ein großes Anliegen der regionalen Rivalen Saudi-Arabien und VAE.
Demnach könnte ein erfolgreiches Abkommen mit dem Iran die Chancen verringern, mehr Barrel aus den beiden wichtigsten Reserveländern der Welt zu gewinnen. Würden alle drei Länder gleichzeitig ihre Produktionskapazitäten voll ausschöpfen, könnte dies theoretisch die Auswirkungen der erwarteten Angebotsverluste Russlands vollständig ausgleichen. Aber auch in diesem Fall würden praktisch alle globalen Reservekapazitäten wegfallen - nicht gerade ein Garant für niedrige Preise.
Weniger vielversprechend sieht eine mögliche Entlastung durch Venezuela aus. Die Ölindustrie des Landes ist nach Jahren der Dysfunktionalität völlig am Boden. Selbst wenn die Sanktionen morgen aufgehoben würden, hätte Venezuela Mühe, in den nächsten 12 Monaten ein paar hunderttausend Barrel pro Tag zusätzlich zu fördern. Langfristig könnte Venezuela zu einem bedeutenden Teil der globalen Versorgungslösung werden... doch kurzfristig stellt dies keinen Game Changer dar.
Damit bleibt nur noch eines: Schiefergestein in den USA als Quelle für ein signifikantes Angebotswachstum.
Das Schieferölangebot hängt weiterhin in den Seilen
Aus den jüngsten Wochendaten der EIA geht hervor, dass die US-Ölproduktion weiterhin bei 11,6 Millionen Barrel täglich stagniert:
Diese Zahl dürfte sich in den kommenden Monaten nach oben bewegen. Aktuelle Schätzungen reichen von 600.000 bis 1.000.000 bbl/d für das Produktionswachstum in den USA bis zum Jahresende.
Kapital- und Lieferkettenbeschränkungen könnten jedoch weiterhin für Gegenwind sorgen, so dass das Wachstum trotz der bei einem Ölpreis von über 100 Dollar möglichen Renditen eher am unteren Ende der Schätzungen liegt.
In der vergangenen Woche haben die US-Bohrunternehmen 3 Anlagen stillgelegt, und die Gesamtzahl liegt weiterhin 23 % unter dem Vorkrisenniveau:
Zum Schluss noch ein Blick auf die neuesten Trends auf der Nachfrageseite der Gleichung.
China: Lockdown-Sorgen sind übertrieben
Ein Wiederaufflammen der COVID-19-Pandemie in China war in der vergangenen Woche ein weiterer Belastungsfaktor für die Rohölpreise. Zu Beginn der Woche machten Berichte die Runde, wonach die Behörden unter anderem die Stadt Shenzhen mit ihren 17,5 Millionen Einwohnern abgeriegelt hatten. Diese Lockdowns erfolgen aufgrund der "Null-COVID"-Politik des Riesenreichs.
Doch hier ist der Kontext entscheidend. Corona-Ausbrüche und Lockdowns sind in China nicht ungewöhnlich. Sie dauern in der Regel Wochen, nicht Monate. Tatsächlich hatten die chinesischen Behörden bereits am Freitag die Wiedereröffnung einiger Fabriken und öffentlicher Verkehrsmittel gestattet. Am Sonntag meldete Chinas staatlicher Nachrichtensender Global Times die erfolgreiche "Kontrolle" der COVID-Fälle und eine Rückkehr zur Normalität in Shenzhen:
Damit ist klar: Großthema für die Nachfrage 2022 ist eine Welt, die sich mehr und mehr von Corona-Beschränkungen und -Lockdowns löst. Sogar in Ländern mit den strengsten Anti-COVID-Maßnahmen wie China scheinen Dauer und Länge der Lockdowns mit jedem Ausbruch kürzer zu werden.
Deshalb gehen die meisten Prognoseinstitute wie die EIA weiterhin davon aus, dass die Nachfrage im Jahr 2022 neue Rekordhöhen erreichen wird. Allerdings könnte die Zerstörung der Nachfrage zu einem echten Problem werden, falls die Preise weiter in die Höhe schießen.
Insofern spielt das Monitoring der Hochfrequenzdaten zur Nachfrage in den kommenden Wochen eine immer wichtigere Rolle. Laut aktuellen EIA-Daten hat sich der US-Verbrauch in den letzten Wochen leicht abgeschwächt und ist von den Anfang Februar aufgestellten Rekordwerten wieder auf das Niveau von 2019 vor Ausbruch der Corona-Pandemie zurückgegangen:
Noch ist nicht klar, ob es sich hierbei um eine vorübergehende Störung oder um etwas Größeres handelt. Die Hochfrequenzdaten geben jedoch Anlass zu Optimismus. Zu den besten Hochfrequenzdaten über die Benzinnachfrage in den USA gehören die von Patrick De Haan von GasBuddy gesammelten Daten. Seine neuesten Zahlen machen deutlich, dass die amerikanischen Autofahrer noch nicht vor den höheren Preisen zurückschrecken:
Auch im US-Flugverkehrssektor erleben wir eine unglaubliche Nachfrage.
Rekordnachfrage nach Flugreisen: Der nächste Aufwärtskatalysator?
Die neuesten täglichen Reisedaten der TSA lassen einen starken Anstieg in der letzten Woche erkennen, wodurch sich das Defizit gegenüber dem Stand vor COVID von -15 % auf -10,5 % verringert hat:
Reuters berichtete in der vergangenen Woche, dass Delta Air Lines (NYSE:DAL) einen "beispiellosen" Nachfrageanstieg registriert hat, mit so vielen verkauften Tickets pro Woche wie noch nie in der Geschichte des Unternehmens. Delta-CEO Ed Bastian sagte: "In meiner Laufbahn haben wir noch nie eine stärkere Nachfrage gesehen". Auch United Airlines (NASDAQ:UAL) und American Airlines (NASDAQ:AAL) meldeten jeweils eine Rekordnachfrage.
Bislang deuten die jüngsten Trends beim Benzinverbrauch und beim Flugverkehr darauf hin, dass die Nachfragezerstörung noch nicht eingesetzt hat. Wenn überhaupt, dann zeigen diese Daten, dass wir kurz vor neuen Verbrauchsrekorden stehen könnten.
Der Bullenmarkt hat noch genug Kraft
Trotz der kurzfristigen Preisvolatilität bleiben die Rahmenbedingungen für das Ölangebot und die Ölnachfrage so günstig wie eh und je. Die jüngsten Bestandsdaten zeigen einen bedrohlich angespannten Markt, noch ehe die Auswirkungen der russischen Lieferausfälle voll zum Tragen kommen.
Um die potenzielle neue Rekordnachfrage in diesem Jahr zu befriedigen und den Verlust von 3 bis 4 Millionen Barrel pro Tag aus Russland auszugleichen, bräuchte der Markt gleich dreifaches Glück:
- Ein erfolgreiches Iran-Abkommen
- Saudi und die VAE brechen den Schulterschluss mit der OPEC+
- US-Schiefergas nimmt Fahrt auf
Aber selbst in diesem Goldlöckchen-Szenario würde der Markt in Bezug auf die Kapazitätsreserven immer noch unter Dampf stehen. Solange die Nachfrage nicht zerstört wird (wahrscheinlich bei höheren Preisen) oder keine bedeutenden Fortschritte auf der Angebotsseite der Gleichung erzielt werden, wird der Markt angespannt bleiben.
Auch wenn wir also mit einer anhaltend hohen Volatilität rechnen können, halte ich diesen Bullenmarkt noch nicht für beendet.
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf der Website Ross Report veröffentlicht.