In den letzten drei Jahren ist die türkische Wirtschaft zu einer der volatilsten der Welt geworden. Nahezu jede wirtschaftliche Kennzahl befindet sich in den oberen oder unteren 10% im globalen Vergleich. Gegen Ende des letzten Jahres erreichte die Inflation im asiatischen Land über 85%, wobei natürlich einige Sektoren mit über 120%iger Inflation zu kämpfen hatten. Interessanterweise wurde der Leitzins in dieser Zeit rapide gesenkt, von 19% in 2021 auf nunmehr 8.5%. Seit 2020 verlor auch die türkische Lira rund 70% an Wert gegenüber dem Euro und stellte damit international auch wieder einen Spitzenwert im negativen Sinne auf. Ganz anders sieht das Bild an der Börse aus: Seit dem Corona-Tief im März 2020 legte der türkische Leitindex BIST100 in der Spitze eine Kursperformance von über 540% hin – ein internationaler Top-Wert.
Seit dem Inflationsdesaster aber ist die Türkei nun eines der Länder, in denen die Inflation am stärksten zurückgeht. Nach 85.51% im Oktober 2022, stand sie jetzt im April „nur noch“ bei 43.68%, kommend von 50.51% im März. Auch die Arbeitslosigkeit sank von 14% Mitte 2020 auf aktuell etwa 10%. All diese Bewegungen in den wichtigsten Kennzahlen der Wirtschaft schaden dem Land immens. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum sind Stabilität und Planbarkeit. Und beides ist in der Türkei derzeit nicht vorhanden. Unternehmen müssen sich mehr über Beleihungskosten, Wechselkurse und Preisgestaltung den Kopf zerbrechen als über die Weiterentwicklung der Produkte und Dienstleistungen. Ein solches Umfeld stellt auch neuen Unternehmern nahezu unüberwindbare Hürden in den Weg, weswegen diese entweder abwarten oder ihr Glück im Ausland versuchen.
Nun stehen in der Türkei am Sonntag Präsidentschaftswahlen an. Ungeachtet des Ergebnisses wird sich die Volatilität aller Wahrscheinlichkeit nach verschlimmern. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hat bereits im Vorfeld angekündigt, die Geldpolitik, sofern er die Wahl gewinnt, komplett umzuwerfen, was wieder zu monströsen Leitzinsen führen könnte. Mit erneut hohen Beleihungskonditionen wird die Barriere für Unternehmer nicht kleiner. Zwar erhoffen sich Investoren durch seine Wahl erhöhtes Vertrauen der globalen Finanzwelt, aber das dürfte nicht so schnell so stark aufgebaut werden, dass es die höheren Zinsen negiert. Auf der anderen Seite rechnen viele Experten mit der Wiederwahl vom amtierenden Präsidenten Recep Erdoğan, unter wessen Amtszeit das Land eben in diese komplexe Krise rutschte. Dass er seine Linie so fortführt und die Wirtschaftskraft weiterhin einseitig auf die Baubranche und den Bankensektor verteilt, ist wahrscheinlich.
Was der Wirtschaft aber am meisten fehlt, ist ein starker Produktionssektor. Aktuell bestehen hohe Einfuhrzölle, um sich nicht vollends von ausländischen Gütern abhängig zu machen. Das ist aber keine nachhaltige Lösung und es müssen begünstigende Maßnahmen her, damit neue Unternehmer im Produktionssektor den Binnenmarkt bedienen. Vor allem muss sich die Wirtschaft auch im Bereich der höher technologisierten Breitenprodukte weiterentwickeln. Der Rüstungssektor ist derzeit der fortschrittlichste, reicht aber nicht aus, um der breiten Masse Arbeit und Wohlstand zu bringen. Einen großen Vorteil hat die Türkei aber, der dazu genutzt werden kann, ebendas zu schaffen: Staatsverschuldung. Während andere Länder mehr leihen als sie produzieren, ist der Schuldenanteil der Türkei gerade mal bei 31.73% des Bruttoinlandsprodukts und lag 2016 noch unter 27.5% – das ist mehr als gut. Genutzt werden kann das offene Kreditpotenzial für Masseninvestitionen in Produktion und wettbewerbsfördernde Infrastrukturen.
Die Situation ist also angespannt, wechselhaft und unbeständig. Werden die Wahlen etwas dran ändern? Aus Insider-Informationen der Financial Times und Reuters geht hervor, dass man international unabhängig vom Wahlergebnis weitere Instabilität erwartet. Zudem braucht es einige Jahre, bis man wieder Vertrauen in die Wirtschaft hat. Ausweglos ist die Situation keineswegs. Es muss eben nur mal was gemacht werden.
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